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Reportage

Bevor der Hammer für ein Urteil fällt, müssen Richter alle objektiven und subjektiven Parameter einer Straftat berücksichtigt haben. Bild: iStock

Wenn die Rechtsprechung zur Lotterie wird

Von: Sacha Beuth

11. Juli 2017

Bei Straftaten gegen Leib und Leben sind nicht wenige der Überzeugung, dass Zürcher Richter viel zu milde Urteile fällen würden. Zwar sind die dafür vorgesehenen Strafrahmen im Vergleich zu denen für andere ungesetzliche Handlungen meist strenger. Doch stehen den Richtern meist auch grosse Ermessensspielräume zur Verfügung.

Eine 60-jährige Frau, die 2015 ihren Lebenspartner erschlug, wird vom Bezirksgericht Zürich für schuldunfähig erklärt. Ein Taxifahrer, der einen Mann auf die Motorhaube lud und mit diesem bei über 130 km/h über die Autobahn bretterte, erhält zwei Jahre bedingt.

Es sind nur zwei Beispiele von Gerichtsfällen der letzten sechs Monate, deren Urteile bei vielen für Unverständnis sorgen und sie in ihrer negativen Meinung über die Schweizer Gerichtsbarkeit bestärkten. Von «Kuscheljustiz» ist dann die Rede. Und dass die Gesetzgebung gerade bezüglich Strafen für Delikte gegen Leib und Leben zu wenig streng sei und die Zürcher Richterinnen und Richter viel zu lasche Urteile fällten.

Umstände berücksichtigen

Doch entsprechen diese Vorurteile den Tatsachen? «Die Frage kann man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten, da immer jeder Fall einzeln angeschaut werden muss», sagt Hans Giger, Aushängeschild der renommierten Anwaltskanzlei «Prof. Giger & Partner» und Professor für Zivil- und Obligationenrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Zürich. «Allerdings lässt sich generell feststellen, dass die Rechtsprechung oftmals zur Entscheidungslotterie verkommt.» Konkret bedeutet dies, dass es bei vergleichbarer Sachlage zu völlig unterschiedlichen Urteilen kommen kann. Auch kann das nächsthöhere Gericht einen Sachverhalt anders beurteilen als die Vorinstanz. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Gesetzgebung zwar einen Strafrahmen für die jeweilige Tat festgelegt hat, der dem Richter jedoch einen relativ grossen Ermessensspielraum einräumt (siehe Strafrahmen-Box). «Und hier liegt die Krux, denn der Ermessensspielraum ist nötig, weil alle Umstände, die zum Delikt führten, berücksichtigt werden müssen, um ein gerechtes Urteil zu fällen.» Ein weiterer Grund für ein vermeintlich mildes Urteil kann im Mangel an stichhaltigen Beweisen liegen. Der Richter hat die Strafzumessung nach dem Prinzip «Im Zweifel für den Angeklagten» auszurichten.

Nichtsdestotrotz lässt sich bei den Deliktsgruppen eine allgemeine Tendenz bei der Strafzumessung feststellen. «In den Anfangszeiten meiner anwaltschaftlichen Tätigkeit, vor rund 60 Jahren, wurden Gewaltdelikte eher mit längeren Strafen bedacht, während Finanzdelikte mit geringem Streitwert mehr Toleranz erwarten liessen. Heute scheint die Entwicklung punktuell in die andere Richtung zu weisen: Es gibt Straffällige mit hoher krimineller Energie, die gemessen am Unrechtsgehalt eher mild bestraft wurden.»

Es fanden sich im untersuchten Zeitraum aber auch Gegenbeispiele. So wurden etwa ein heute 33-Jähriger, der seine Eltern erstochen hatte, zu 20 Jahren Freiheitsentzug und ein 52-Jähriger, der eine Minderjährige vergewaltigt hatte, zu 6 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Nicht jeder ist therapierbar

Gelegentlich führt nicht nur die Rechtsanwendung, sondern auch die Gesetzgebung zu fragwürdigen Urteilen: So gibts etwa bei massiven Geschwindigkeitsüberschreitungen ohne besondere Gefährdung eine erhebliche Gefängnisstrafe. «Ist ein Automobilist auf einer Strecke mit massiv übersetzter Geschwindigkeit unterwegs, hat er je nach den Umständen mit einer Freiheitsstrafe von 1 bis 4 Jahren zu rechnen. Bis vor kurzem galt dies auch in Fällen, bei denen der «Raser» in übersichtlichen Verhältnissen allein unterwegs war und niemand verletzt oder gefährdet wurde.» In Bezug auf eine Gesamtbeurteilung hält Giger die im Gesetz vorgesehenen Straflimiten für adäquat. Anders beim Strafvollzug. Dort besteht für den Uni-Professor noch einiger Verbesserungsbedarf. Insbesondere im Therapiebereich. «Nicht jede kriminell gewordene Persönlichkeit lässt sich therapieren, und dies vor allem dort nicht, wo Psychopathie oder Geisteskrankheit diagnostiziert wird. Hier hilft vielfach nur – wenn überhaupt – ein strenger Strafvollzug und im Extremfall eine Verwahrung.»

Strafrahmen für verschiedene Delikte im Vergleich

Das Strafgesetzbuch (StGB) legt in den einzelnen Bestimmungen zumeist den Strafrahmen – Minimal- und Maximalstrafe – fest. Grundsätzlich bewegt sich zumeist das Urteil innerhalb dieser Grenzen; es sei denn, dass Strafmilderungs- oder Strafminderungsgründe oder auch Vorliegen einer verminderten Zurechnungsfähigkeit eine Unterschreitung oder allenfalls Überschreitung des Strafrahmens zulassen. Nachfolgend ein paar generelle Strafrahmenbeispiele für unterschiedliche Delikte:

Straftaten gegen Leib und Leben:
– Vergewaltigung
1–10 Jahre Freiheitsentzug
– Schwere Körperverletzung (z. B. Verlust des Augenlichts)
Geldstrafe – 10 Jahre Freiheitsentzug
– Totschlag (Tötung, bei der ursprünglich keine Absicht vorlag)
1–1o Jahre Freiheitsentzug
– Vorsätzliche Tötung (Absicht der Tötung war vorhanden)
5 Jahre – lebenslänglich*
– Mord (Tötung mit Absicht und mit besonderer Grausamkeit)
10 Jahre – lebenslänglich*

Übrige Straftaten (Auswahl):
– Bankraub (ohne Verletzte)
Geldstrafe – 10 Jahre Freiheitsentzug
– einfacher Diebstahl
bedingte Geldstrafe – 5 J. Freiheitsentzug
– Betrug
bedingte Geldstrafe – 5 J. Freiheitsentzug
– Ehrverletzung (Antragsdelikt!)
Geldstrafe – 3 Jahre Freiheitsentzug
– Verkehrsverletzung
Geldstrafe – 4 Jahre Freiheitsentzug

* In der Theorie tatsächlich bis Lebensende, in der Praxis dauert der Freiheitsentzug max. 15 Jahre.

Zur Person

Hans Giger, geboren am 6. 10. 1929 in Chur, ist seit den 70er-Jahren Professor für Schweizerisches Zivil- und Obligationenrecht inkl. Rechtsvergleichung und ab 1995 emeritierter Professor an der Universität Zürich. Er führt an der Nüschelerstr. 49 die Anwaltskanzlei «Prof. Giger & Partner». Durch zahlreiche Publikationen, die sich u. a. mit dem Problem des Privat- und Wirtschaftsrechts sowie den soziologischen und psychologischen Phänomenen des Rechts befassen, erlangte er in Juristenkreisen internationale Bekanntheit.

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