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Reportage

1895 wurde die erste Krippe der GFZ an der Hallwylstrasse 32 unter der Leitung einer Diakonissin der Diakonissenanstalt Neumünster eröffnet. Die Kinder wurden damals noch an «Licht und Luft» gesetzt, damit sie gesund blieben.

Wie die Stadt für Kinder zu einer besseren Welt wurde

Von: Jan Strobel

09. Juli 2019

Vor hundert Jahren eröffnete der Gemeinnützige Frauenverein Zürich (GFZ) in Wiedikon seine fünfte Kinderkrippe, die heutige GFZ Kita 3. Die Stiftung leistete damals in der Stadt harte Pionierinnen-Arbeit unter schwierigsten Umständen und rettete Kinder aus armen Gesellschaftsschichten vor Elend und Unterernährung.

Als 1919 an der Zelgstrasse 37 in Wiedikon die fünfte Kinderkrippe des Gemeinnützigen Frauenvereins Zürich (GFZ) eröffnet wurde, kam das für die Mütter der ärmeren Gesellschaftsschicht einem Lichtblick in düstersten Zeiten gleich. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, und auch in der Schweiz herrschte Not. Die Spanische Grippe hatte Tausende dahingerafft, am Landesstreik forderten Arbeiter und Gewerkschafter Reformen. Die Lebensmittelknappheit griff die Fundamente der Familien an. Die Milchpreise stiegen kontinuierlich. Und auch wenn der Regierungsrat nach Frauenprotesten vor dem Rathaus den Milchpreis etwas senkte; die 33 Rappen pro Liter frassen etwa 8 Prozent eines durchschnittlichen Tageslohns weg.

Die Wurzeln dieser Entwicklungen gehen ins 19. Jahrhundert zurück. Mit dem Anwachsen der Arbeiterschaft in den Industriebetrieben wurde auch die rasant wachsende Stadt Zürich mit einer neuen Realität konfrontiert. Die klassischen gesellschaftlichen Gesetzmässigkeiten schienen zu kippen. In Arbeitervierteln wie Aussersihl herrschten teilweise prekäre Lebensbedingungen. Die Verhältnisse änderten insbesondere auch die Rolle der Frauen, die jetzt ebenso für den finanziellen Unterhalt der Familien aufkommen mussten, weil der Verdienst der Männer oft nicht ausreichte. Anders als im bürgerlichen Milieu mussten die Arbeiterfrauen immer häufiger ausser Haus einer Beschäftigung nachgehen. Leidtragende dieser Entwicklung waren die Kinder, deren Betreuung so kaum mehr gewährleistet war.

Der Nerv der Zeit
Diese untragbare Situation in den ärmeren Gesellschaftsschichten rüttelte auch eine Gruppe von liberalen Pionierinnen aus Zürcher Akademiker- und Politkreisen auf, die sich im Gemeinnützigen Frauenverein Zürich engagierten, der 1885 gegründet worden war. Im Dezember 1894 veröffentlichten sie in der NZZ einen Aufruf zur Gründung einer Kinderkrippe in Zürich und erklärten der verdutzten Leserschaft zuerst einmal, was mit einer solchen Krippe überhaupt gemeint war: «Das ist ein Ort, wo Kinder aller Konfessionen in ihren ersten Lebensjahren tagsüber Aufnahme finden.» Eine solche Einrichtung sei eine «dringende Notwendigkeit» angesichts der Lebensumstände in der Arbeiterschaft. «Manches junge Leben wurde schon Opfer dieser Zustände, weil die mangelnde oder ganz unzweckmässige Pflege während der Abwesenheit der Mutter den zarten Organismus dauernd schädigte.»

Ausgerechnet Zürich als grösste Stadt des Landes hatte die Signale des gesellschaftlichen Wandels immer noch nicht gehört. Andere Städte waren da bereits weiter und hatten erste Kinderkrippen eingerichtet. Mit dem Aufruf hoffte der Gemeinnützige Frauenverein Zürich nun auch an der Limmat auf «milde Spenden aller Menschenfreunde».

Tatsächlich war die Aktion der Beginn einer ersten Erfolgsgeschichte, weil sie den Nerv der Zeit getroffen hatte. Bereits im Frühling 1902 konnte der Gemeinnützige Frauenverein Zürich an der Josefstrasse im Industriequartier seine dritte Kinderkrippe eröffnen – und das ohne Subventionen durch städtische Behörden. Die Nachfrage nach Krippenplätzen überstieg bereits zu diesem Zeitpunkt die vorhandenen Kapazitäten. Der Ruf nach weiteren Institutionen in den Arbeiterquartieren wurde lauter. Aufgenommen wurden in diesen ersten Krippen gesunde Kinder aus «dürftigen, aber braven und arbeitsamen, seit wenigstens einem Vierteljahr in Zürich niedergelassenen Familien», allerdings nur in Fällen, in denen die Mutter nachweislich genötigt war, ausser Haus zu arbeiten. Ebenso zugelassen wurden Kinder von Frauen, deren Männer arbeitslos waren.

Die Eröffnung der Wiediker Kinderkrippe war also ein Gebot der Stunde, doch der Betrieb, die Verpflegung und Betreuung der Kinder, war ohne Spenden nicht aufrechtzuerhalten. Am Sechseläuten 1919 wurden zugunsten der Krippen Fähnchen an die Zuschauer verkauft. Immerhin kam dabei die damals sehr hohe Summe von 30 000 Franken zusammen. 

Die Geschichte der Kinderkrippe an der Zelgstrasse, heute heisst sie GFZ Kita 3, gibt insbesondere einen Einblick, wie die Kinderbetreuung organisiert wurde. Die Mitarbeiterinnen führten zum Beispiel akribisch Haushaltsbücher, in der jede Ausgabe erfasst und später rapportiert wurde. 1948 etwa ging es um die noch vorhandenen Vorräte aus Kriegszeiten, «hauptsächlich Wasch- und Putzmaterial», das reduziert werden sollte. Daneben wurden Buebeschürzli, Esslätzli, Röckli oder Seelenwärmerli eingekauft. Auch Spenden aus der Bevölkerung notierten die Betreuerinnen. 1952 schenkte eine Frau Schmoll der Kindertagesstätte «allerlei Säuglingswäsche». Die Mitarbeiterinnen übernachteten jeweils auch gleich in der Kita.

Heute betreibt der Gemeinnützige Frauenverein Zürich in der Stadt 14 Kindertagesstätten, in denen insgesamt 1458 Kinder ab 3 Monaten bis Kindergarteneintritt betreut werden. Dazu kommen Tagesfamilien und drei Familienzentren. In der Wiediker Kita 3 sind 58 Plätze auf fünf Kindergruppen inklusive elf Säuglingsplätze verteilt.  

Buebeschürzli, Esslätzli und Röckli: In der GFZ-Krippe in Wiedikon erhielten Kinder aus armen Verhältnissen ab 1919 Betreuung.

1902 eröffnete der GFZ an der Josefstrasse 76 und 78 seine dritte Krippe. Erstmals werden zur Betreuung auch Kindergärtnerinnen eingesetzt.

Kitas in Zürich: Hohe Versorgungsquote,
aber immer noch Sorgen beim Personal

In seiner Anfang Juli veröffentlichten Auswertung zur familienergänzenden Kinderbetreuung zieht das Sozialdepartement eine äusserst positive Bilanz. Die Stadt Zürich nehme heute mit einer Versorgungsquote von 80,5 Prozent eine Vorreiterrolle in der Schweiz ein. Die Nachfrage nach Kita-Plätzen gilt für das Sozialdepartement damit als gedeckt. Durch die Aufhebung der Kontingentierung und durch die Einführung der neuen Verordnung Kinderbetreuung stehe heute allen Familien ein Kita-Platz zur Verfügung. Dank Subventionierung könnten sie sich das nun auch leisten.

Bessere Löhne gefordert

Spätestens seit der Jahrtausendwende steigt die Zahl der Kindertagesstätten in der Stadt Zürich kontinuierlich. Ende 2017 standen insgesamt 10 331 Betreuungsplätze in rund 320 Kitas zur Verfügung. Durch die Stadt subventioniert wurden knapp 3950 Plätze in 272 privaten und städtischen Kitas. Die Stadt selbst betreibt davon zwölf Kindertagesstätten an zehn Standorten. Zum Vergleich: 2002 gab es 140 Kitas in der Stadt Zürich, 2015 waren es bereits 286 Kitas mit insgesamt 8859 Betreuungsplätzen. Diese Zahlen und die jetzt erreichte Versorgungsquote von 80,5 Prozent sind auch ein direktes Resultat des Volksentscheids von 2005. Damals sagten 67 Prozent der Stimmberechtigten Ja zum Ausbau der ausserfamiliären Kinderbetreuung in Zürich.

Ein Problem indessen zeigt sich angesichts dieses Wachstums beim Personal. Die Kitas in der Stadt Zürich weisen eine hohe Personalfluktuation auf. Das Sozialdepartement gab deshalb 2014 eine Studie zu den Arbeitsbedingungen durch das Institut für Sozial- und Präventivmedizin in Auftrag, um Massnahmen für eine Verbesserung und für eine Eindämmung der Fluktuation erarbeiten zu können. Die Hälfte der Kitas gab an, keine Fluktuation gehabt zu haben, die andere Hälfte der Kitas berichtete dagegen, dass in einem Jahr eine oder mehrere Gruppenleitungen oder Miterziehende gekündigt haben. Gemäss Befragung gab es einige Kitas mit einer Fluktuationsrate der Miterziehenden über 100 Prozent. 65 Prozent der Betreuungspersonen gaben an, dass sie sich manchmal oder oft erschöpft und ausgelaugt fühlen. Der Lohn des Kinderbetreuungspersonals wurde im Vergleich zu anderen Berufsgruppen für zu tief gehalten.

Das Sozialdepartement sah in einer Stellungnahme in erster Linie die Branchenverbände, Gewerkschaften und den Kanton in der Pflicht, im Bereich der familienergänzenden Kinderbetreuung Mindestlöhne durchzusetzen oder einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen. Auch die Gewerkschaft VPOD fordert einen GAV oder einen allgemeingültigen, sozialpartnerschaftlich ausgehandelten Arbeitsvertrag, bessere Arbeitsbedingungen in Kitas und jährliche vollumfängliche Qualitätskontrollen. Die Gewerkschaft lancierte deshalb die Petition «Weil Kinder mehr Zeit brauchen». Die Sammelphase endete im Juni. Zudem riefen während des Frauenstreiks vom 14. Juni Fachpersonen aus der Kinderbetreuung in Zürich zu einem «Streik-Zvieri» auf, um auf die Missstände aufmerksam zu machen.

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