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Reportage

"Wir nehmen Neujahr sehr ernst"

Von: Clarissa Rohrbach

30. Dezember 2013

Nicht alle Kulturen feiern das neue Jahr heute und schon gar nicht mit Champagner. Ein Muslim, eine Chinesin und eine Jüdin erzählen, was das neue Jahr für sie bedeutet und wie sie rutschen.

Dr. Wasay Bhatti

«Am Jahresende frage ich mich: Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich jemanden verletzt? Habe ich meine Ziele erreicht?» Für den gläubigen Muslim ist aber Neujahr mehr als ein Anlass, Bilanz zu ziehen: Es ist heilig. Er bedankt sich bei Gott für das, was ihm gegeben wurde, fastet und betet, um ein besserer Mensch zu werden. «Ein anderes Jahr geht vorbei, und die vorbestimmte Zeit, um sich fürs ewige Leben vorzubereiten, wird kürzer. Man sollte ehrfürchtig sein und mit guten Taten ins neue Jahr einsteigen.» So engagiert sich Wasay Bhatti jeden Silvester für seine Mitmenschen. Bisher räumte er mit anderen Mitgliedern der Ahmadiyya-Gemeinde freiwillig nach der Party am Bellevue auf. Dieses Jahr wird er das in der Mahmud-Moschee vorbereitete Essen in Pfarrer Siebers Pfuusbus verteilen. Von Feuerwerken hält er nichts: So viel Geld werde in ein paar ­Minuten verpufft. «Das soll man lieber brauchen, um Menschen zu helfen.» Der 31. Dezember hat für den gebürtigen Pakistaner an Bedeutung gewonnen. «Ich lebe nun hier, die Zürcher Gesellschaft ist auch meine Gesellschaft, deswegen halte ich mich an dieses wichtige Datum.» Aber eigentlich findet Bhattis richtiges Neujahr erst am 25. Oktober 2014 statt. Dann beginnt das islamische Jahr 1436. Das ist der Jahrestag der Hidschra, der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina. Der Rechtsanwalt wird an diesem Tag arbeiten müssen. Aber er wird nach dem Aufstehen sein Frühgebet rezitieren, etwas essen und dann von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang sich nichts mehr an die Lippen führen. Doch sobald es dunkel ist, gibt es auch beim 28-Jährigen und seiner Frau etwas Leckeres zu essen, Süsses mag er besonders. Denn neben allem Ernst bringt Neujahr auch das Versprechen einer guten Zukunft. «Aber nur, wenn wir lernen zu teilen und unsere Mitmenschen zu verstehen, natürlich.»

Dr. Lifeng Liu

Die chinesische Ärztin fürchtet sich ein bisschen. Am 31. Januar beginnt das Jahr des Holzpferdes, ihres eigenen Sternzeichens. «Das bringt meistens Unglück», sagt die 35-Jährige. Am Vortag pilgern Chinesen aus der ganzen Welt nach Hause und essen, während eine fünfstündige Sendung im staatlichen Fernsehen CCTV läuft. «Es treten weltbekannte Stars auf, letztes Jahr kam sogar Céline Dion.» Doch leider beginnt die Show um 20  Uhr Peking-Zeit. Dann ist hier Nachmittag, und Liu behandelt die Patienten in ihrer Akupunktur-Praxis. Sie wird aber am Abend mit Familie und Bekannten fein zu Abend essen. Nach dem Brauch feiern ihre Landsleute das neue Jahr aber während 15 Tagen. Zuvor wird das Haus geputzt sowie mit roten Laternen und goldenen Spruchbändern dekoriert. Alles muss fürs Fest neu sein: Neue Kleider, neue Frisur und neue Vorräte. Dem Küchengott wird Klebereis geopfert. Am letzten Tag des Jahres lässt man nach dem Essen die Fenster offen, um das Glück ins neue Jahr einzulassen, und zündet Feuerwerke, obwohl das in einigen Regionen verboten ist. Am frühen Morgen des Neujahrstags bringen die Kinder den Nachbarn «Jiaozi» vorbei, chinesische Ravioli. Im Gegenzug bekommen sie «Ang Pow», Geldgeschenke in roten Umschlägen, denn Rot ist die Farbe des Glücks, der Freude und des Wohlstands. Ab dem zweiten Tag sind dann verschiedene Besuche angesagt. Das chinesische Neujahr endet mit dem Laternenfest am 15. Tag, an dem Drachen- und Löwentänze stattfinden und Lichter den Geistern den Weg nach Hause erleuchten sollen. Liu hofft, dass auch hier in Zürich während dieser Tage die Gesellschaft Schweiz-China einen Event ­organisieren wird. Der hiesige Silvester feiert sie wie viele Zürcher auch: zuerst Festessen, dann Silvesterzauber und schliesslich Party.

Ruth Gellis

«An Silvester feiert zwar mein Umfeld, aber das Datum hat für mich nicht den gleichen emotionalen Wert.» Üblicherweise geht Ruth Gellis an diesem Tag ins Kino oder ins Theater, wie an einem Wochenende. Heuer verbringt sie die Festtage in Israel. Die Jüdin ist Projektbeauftragte für den interreligiösen Dialog bei der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Richtig feiert sie das Neujahr während Rosch ha-Schana, der Anfang des Jahres 5775, welches am 25.  September 2014 beginnt. Während zweier Tage feiern dann die ­Juden das Datum der Weltschöpfung. «Im Gegensatz zu Silvester nehmen wir unser Neujahr sehr ernst. Es herrscht eine besinnliche Atmosphäre.» Es ist der Zeitpunkt, in dem man sich mit der Reue beschäftigt. So haben Juden schon einen Monat vor Neujahr die Chance, sich bei den Mitmenschen zu entschuldigen, falls sie ­ihnen Unrecht angetan haben. Denn: «Wenn man nicht mit den Menschen umgehen kann, wie soll man es dann mit Gott schaffen?» So begegnen sich die Leute in ihren besten Kleidern in der Synagoge, singen, beten und begraben alte Fehden. Zum Gottesdienst wird der Schofar geblasen, ein Widderhorn, dessen Klang die Menschen aufrütteln soll. Am Nachmittag geht Gellis mit ihren Bekannten dann zur Saffa-Insel, um ihre Sünden – symbolisch – ins Wasser zu werfen. Während der zwei Tage wird auch viel gegessen, unter anderem Äpfel mit Honig, die ein rundes, süsses Jahr symbolisieren. Falls jemand keine Familie hat, wird er auch zu Tisch geladen. «Unser Neujahr gibt mir die Möglichkeit, mich mit mir selbst und meinen Mitmenschen auseinanderzusetzen, das mag ich.»n

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