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Reportage

Der Herbst hat sein Füllhorn am Marktstand der Obstproduzenten-Familie Wegmann auf dem Helvetiaplatz ausgeschüttet: Michael Heinz, Ursula Flückiger, «Tagblatt»-Mitarbeiterin Isabella Seemann, Esther Wegmann, Lidia Groppo, Thomas Wegmann (v. l.). Bild: Nicolas Y. Aebi

Wo der Chräis Chäib zum Schlaraffenland wird

Von: Isabella Seemann

25. September 2018

Um fünf Uhr morgens herrscht auf dem Helvetiaplatz im Kreis 4 bereits Hochbetrieb. Die Höngger Produzenten Esther und Thomas Wegmann und ihr Team bringen frisch geerntetes Obst und Gemüse – und ansteckende gute Laune. Für die Serie «Am Puls» mittendrin: Redaktorin Isabella Seemann.

Eigentlich sind die beiden unverschämt gut gelaunt. Um Viertel nach fünf in der Früh steigen Esther und Thomas Wegmann am Helvetiaplatz aus ihrem Lieferwagen und plaudern munter drauflos über das Geschäft mit dem Obst, den Früchten und den Beeren. «Reine Gewohnheitssache, das mit dem frühen Aufstehen», sagen die beiden erfahrenen Marktfahrer lapidar. Und so ein erwachender Tag in der Stadt hat durchaus seinen Charme.

Geladen wurde der Transportwagen bereits abends zuvor mit den frisch geernteten Früchten und Beeren ihrer Obstanlagen in Höngg, 200 Meter oberhalb der Endstation des 13er-Trams, wo die Stadt sich im Grünen auflöst. Im traditionsreichen Stadt­zürcher Familienunternehmen Obsthaus Wegmann an der Frankentalerstrasse 64, in dem derzeit drei Generationen zusammenarbeiten, sind sie hauptsächlich zuständig für Handel und Vertrieb. Neben Lieferungen in Büros und in Lebensmittelgeschäfte machen Esther und Thomas Wegmann seit 25 Jahren den Markt, dienstags und freitags am Helvetiaplatz und samstags auf der Gemüsebrücke. 

Die Strassen sind menschenleer, der Himmel noch immer stockdunkel, kein einziger Stern ist zu sehen, die ersten dicken Regentropfen verheissen nichts Gutes. Aber auf dem Helvetiaplatz geht es bereits zu und her wie auf der ­Chilbi. In atemberaubendem Tempo stellen Dutzende Marktfahrer bei grellem Scheinwerferlicht ihre Buden auf. Helfer wuseln herum. Ursula Flückiger und Lidia Groppo, die beiden Verkaufsassistentinnen, sind zum Wegmann-Team gestossen. Fröhlich wirft man sich ein «Guten Morgen» zu, aber das Schwätzchen muss warten. Es kann «strub» werden. Die Zeit ist getaktet, der Aufbau erfolgt systematisch, jeder der geübten Handgriffe sitzt. Sie könnten sie auch im Schlaf machen, aber alle sind hellwach und purlimunter. Die Stangen und Bretter werden zu einem langen Stand aufgebaut, mit Blachen bedeckt, auch seitlich, denn mittlerweile regnet es wie aus Kübeln. «Dieser Job ist nichts für Weicheier», sagt Thomas Wegmann kurz und prägnant und lacht.

Dann werden die sieben Rollgestelle voller Obst rausgebracht, alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen packen an und stellen die kiloschweren Kisten auf die Präsentationsfläche. Acht Sorten Äpfel aus Höngg, lokaler geht nicht, die Mirabellen brillieren um die Wette, Himbeeren und Brombeeren lassen einem schon beim Anblick das Wasser im Munde zusammenlaufen, und die süssen Zwetschgen machen Lust – ja, soll man gleich reinbeissen oder einen Kuchen daraus machen?

Dazu kommen noch mehrere Kisten Gemüse ihrer Geschäftspartner, der Familie Leuzinger vom Ankenhof in Oberengstringen: grell orange Kürbisse, knackige Rüebli, die gestern noch unter der Erde lagen, Salate, die bis aufs letzte Blatt so frisch glänzen wie im Morgentau, der Blumenkohl ist makellos weiss, der Schnitt noch unverfärbt. Vom Engros-Markt ergänzen zudem Aprikosen aus dem Wallis, Pfirsiche, Melonen und Bananen das Angebot des rund 35 Quadrat­meter grossen Marktstandes. Die Präsentation der Ware hat für die Wegmanns oberste Priorität. Um halb sieben Uhr ist jedes Träubchen an seinem Platz. 

Wenig später kommt auch der fünfte Mitarbeiter mit dem Velo angefahren, Michael Heinz. Auch er, wie könnte es anders sein, packt in allerbester Morgenlaune die Flaschen mit selbst gepresstem Apfelsaft aus und füllt nochmals die Vorratskisten auf. Der Himmel klart auf, es werden viele Kunden erwartet. Die Stände rundherum sind ebenfalls aufgebaut und bestückt mit Rosen, Würsten, Käse, Brot und Pilzen. Zwischen frischem Rhabarber, knorrigem Sellerie und zarten Bohnen schäkert der Verkäufer vom konkurrierenden Nachbarstand mit den Damen des Wegmann-Teams. Man kennt sich seit Jahren. «Die Stimmung unter uns Marktfahrern ist sehr familiär», sagt Ursula Flückiger. Das ist einer der vielen Gründe, weshalb sie die körperlichen Strapazen und das Frühaufstehen und folglich auch das Frühinsbettgehen auf sich nehmen.

Lidia Groppo nennt einen weiteren Grund: «Es ist einfach eine riesige Freude, wenn man die eigenen Produkte an den Mann und an die Frau bringen kann. Das macht uns Marktfahrer stolz.» 

Noch bevor es sieben Uhr geläutet hat und die Preis- und Warenschilder an jedem Kistchen befestigt sind, stehen prompt auch schon die ersten Kunden vor dem Stand. «Ein wahres Schlaraffenland», sagt eine Dame und kauft zwei Kartoffeln, zwei Äpfel, ein halbes Kilo Zwetschgen, eine Rande und einen Kopfsalat – das reicht für sie allein übers Wochenende. Am nächsten Dienstag kauft sie wieder frisch ein. Frau Welti ist eine der vielen Habituées, man kennt sich beim Namen. 

Kurze Zeit später schaut eine ehemalige Stadträtin, die im Kreis 4 wohnt, vorbei. Man hält einen kleinen Schwatz, tauscht ein paar ­Lebensweisheiten aus. Auch sie ist regelmässige Kundin bei den Wegmanns. Mit vollem Korb und unbeschwertem Lachen zieht sie zum nächsten Stand. Angestellte machen auf dem Weg ins Büro einen Halt, um den Früchtekorb aufzustocken. Väter mit Babys in der Trage kaufen fürs Znacht ein, die kleinen Gässchen zwischen den Ständen füllen sich mit fröhlichen Menschen. Auf dem Markt kauft man bei ­Menschen ein und nicht im anonymen Selbstbedienungsladen. Die sonst so hochnäsige Frau Zürcher plaudert mit dem schrulligen Bauern, der stets gestresste Herr Zürcher nimmt von der Bäuerin dankend ein Pastinakenrezept auf, das garantiert in keinem Kochbuch steht.

Wenn die Marktfahrer dienstags und freitags einen der eher hässlichen Plätze der Stadt in ein wahres Schlaraffenland verwandeln, dann werden zwischen jungem Gemüse und reifem Käse tatsächlich auch die mürrischsten Zürcher zu charmanten Wesen mit Sonnenblumen im Arm, süssen Beeren im Korb und einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. Fast so, als weilten sie in den Ferien.

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