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Reportage

Bedürftige versammeln sich am Bahnhofquai, um bei einer Abgabestelle der Stadt vergünstigte Lebensmittel zu beziehen. Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Zürich im Ersten Weltkrieg: Eine fast friedliche Oase

Von: Sacha Beuth

11. April 2014

Im Sommer vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Zürich und die Schweiz blieben zwar vom Kampfgeschehen verschont, trotzdem hatte gerade der arme Teil der Stadtbevölkerung zu leiden.

Obwohl die Vorzeichen in Europa schon lange auf Krieg standen und die Ermordung des österreichischen Kronprinzen Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo der entscheidende Funken am Pulverfass war, glaubte man in Zürich selbst nach dem Anschlag, dass sich die Situation wieder normalisieren würde. Wie Rahel Herber in einem Kapitel von «Kriegs- und Krisenzeiten – Zürich während des Ersten Weltkriegs» schreibt, kam dann auch der Kriegsausbruch für viele überraschend.

In der Folge herrschte in der ersten Phase des Kriegs Unsicherheit und Ungewissheit. Man gierte nach Neuigkeiten und riss den Zeitungsverkäufern die Ausgaben förmlich aus der Hand. Allerdings sorgte sich die Bevölkerung Zürichs weniger darum, dass auch die Schweiz Kriegsschauplatz werden könnte, glaubte man doch an die Achtung der Kriegsparteien vor der Neutralität der Schweiz und an die Schlagkraft der eigenen Armee. Vielmehr fürchtete man eine ökonomische Krise. Und so kam es dann in dieser Zeit nicht nur zu zahlreichen Hamsterkäufen, sondern die Zürcherinnen und Zürcher hoben auch ihr Geld von den Bankkonti ab, um es zu Hause aufzubewahren. Die Behörden appellierten darauf an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, um nicht tatsächlich in eine Krise zu stürzen.

Nachdem der Bundesrat am 31. Juli 1914 die Pikettstellung der Armee und am 3. August die Allgemeine Mobilmachung angeordnet hatte, änderte sich auch das Leben in Zürich. Sah man zuvor mehrheitlich Männer im arbeitsfähigen Alter und in zivil, prägten nun Uniformierte, Pensionäre und Frauen das Stras­senbild. Vor allem aber hatte die Militarisierung für den Grossteil der Bevölkerung ernsthafte Konsequenzen. Den Familien fehlte das Einkommen der Männer, denn die Soldaten erhielten damals noch keinen Erwerbsersatz. Viele kleinere Betriebe mussten dichtmachen. Die Kleider armer Leute wurden immer schäbiger, und es bildeten sich lange Schlangen vor den Fürsorgeeinrichtungen. Ab 1917 wurden die Grundnahrungsmittel stufenweise rationiert und ab Oktober 1917 Brotkarten ausgegeben. Jede Person hatte damals Anrecht auf lediglich 250 Gramm Brot pro Tag und 500 Gramm Mehl pro Monat! Wer seine Karten verloren hatte, musste schauen, wie er über die Runden kam. Und während sich für einige wenige Personen aus der oberen Gesellschaft das Leben kaum veränderte und man die Freizeit etwa zum Tennisspielen nutzte, bestand die Hauptaufgabe vieler weniger gut betuchter Mütter darin, genügend Lebensmittel und Brennmaterial für sich und ihre Familien zu organisieren. Laut Erika Hebeisen, Peter Niederhäuser und Regula Schmid in «Kriegs- und Krisenzeiten» war während der letzten beiden Kriegsjahre ein Sechstel der Bewohner Zürichs auf Unterstützung angewiesen. Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass die Rationierung viel zu spät erfolgt ist.

Auch ohne Krieg tote Soldaten

In den Arbeiterkreisen begann es derweil zu gären. Die Demonstrationen häuften sich und gipfelten im November 1918 schliesslich in einem landesweiten Generalstreik. General Ulrich Wille liess unter der Führung von Divisionär Erich Sonderegger Zürich besetzen. Es kam zu Zusammenstössen zwischen Militär und Streikenden. Dabei kamen vier Personen ums Leben, darunter auch ein Füsilier während einer Gross­demo auf dem Fraumünsterplatz. Er war übrigens nicht der einzige Schweizer Soldat, der in dieser Zeit bei Ausübung seiner Pflicht starb. Auch mehrere Piloten der neu gegründeten Luftwaffe, die bei Trainingsflügen abstürzten, ereilte dieses Schicksal.

Trotzdem kann Zürich während des Ersten Weltkriegs als ziemlich friedliche Oase inmitten des Grauens bezeichnet werden. Für einige Frauen war der Krieg sogar eine Chance, konnten sie sich doch in Bereichen beweisen, die zuvor meist Männern vorbehalten waren.

 

Lesetipp zum Thema: «Kriegs- und Krisenzeit – Zürich während des Ersten Weltkriegs» von Erika Hebeisen, Peter Niederhäuser und Regula Schmid, Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, Band 81, Chronos-Verlag. Um 48 Franken. Erhältlich im Fachhandel oder im Internet über www.chronos-verlag.ch

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