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Kultur

Haben klare Visionen: Benjamin von Blomberg (l.), Nicolas Stemann.  (Bild: Gina Folly)

Die Bühne, die die Welt verändert

Von: Isabella Seemann

03. September 2019

Das Schauspielhaus Zürich startet mit einer neuen Doppelspitze in die neue Saison. Die Erprobung ungewohnter, eigenständiger Theaterformen mit einem festen Kreis von Regisseuren und Autoren – das sind nur einige der Pläne von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg für das Stadttheater.

Seit zwei Jahren ist bekannt, dass Sie die Intendanz am Schauspielhaus Zürich übernehmen. Ist es nicht nervenaufreibend, so lange warten zu müssen?

Nicolas Stemann: Es ist ebenso erleichternd wie aufregend, hier in Zürich angekommen zu sein und dem Zürcher Publikum endlich unser Programm zeigen zu können. Tatsächlich aber braucht es diese lange Vorbereitungszeit. Zum einen hatte ich ja noch Engagements, eine Wohnung für meine vierköpfige Familie in der Immobilienhölle Zürich und die Betreuung für die Kinder musste organisiert werden, zeitgleich stellten Benjamin und ich das Ensemble auf und das Programm zusammen. Was die Auseinandersetzung mit der Stadt betrifft, so bin ich durch vorherige Engagements am Schauspielhaus und durch meine Lehrtätigkeit an der Zürcher Hochschule der Künste durchaus seit längerem mit ihr vertraut.

Benjamin von Blomberg: Ich bin nun schon bald ein Jahr in Zürich, seit September letzten Jahres, und fühle mich eigentlich schon als Zürcher (lacht), vor allem wenn ich den Regisseuren und den Ensemblemitgliedern, die nach und nach hier dazukommen, die Stadt zeige und auch ein paar Lebensumstände erklären kann. Jetzt aber freue ich mich darauf, dass wir das Zürcher Publikum kennen lernen werden – und das Publikum uns.

Warum betrachten Sie die Co-Intendanz als eine gute Lösung?

Stemann: Als ich von der Findungskommission angefragt wurde, ob ich mich für die Intendanz bewerben möchte, schlug ich Benjamin von Blomberg, mit dem ich bereits in zahlreichen Produktionen zusammengearbeitet habe, vor, eine Bewerbung für eine Co-Intendanz einzureichen. Wir sind überzeugt davon, dass ein Zweierteam eine gute Idee ist, die SPD hat es uns sogar nachgemacht. (lacht) Im Ernst, natürlich gibt es sie noch, die Theater mit dem allmächtigen Intendanten, doch nach unserer Vorstellung, so wie wir arbeiten, ist dies keine zeitgemässe Form, einen Theaterbetrieb zu führen. Theater ist im Kern eine kollektive und partizipative Kunstform. Und dieses gemeinsame Arbeiten in einem sehr lebendigen und offenen und auch diskursfreudigen und durchaus auch streitbaren Prozess lässt sich auch auf eine ganze Institution übertragen.

Blomberg: Wir praktizieren nicht einfach ein Jobsharing, in dem wir uns eine Vollzeitstelle teilen, sondern wir bringen – und das haben wir bei unserer bisherigen Zusammenarbeit immer wieder als grosse Bereicherung erfahren – unterschiedliche Expertisen und unterschiedliche Energien ein. Und eben in dieser Unterschiedlichkeit ergänzen wir uns, fordern uns gegenseitig heraus und geben aufeinander acht. Wir klammern Konflikte nicht aus, sondern wir wachsen aneinander.

In Zürich werden Theaterdirektoren gern heftig kritisiert. Sie wirken furchtlos und unbekümmert.

Stemann: Darauf werden wir oft angesprochen, und wir sind gewappnet. Die Beziehung der Stadt Zürich zu ihren Intendanten war bislang offenbar nicht immer eine glückliche. Wir hoffen natürlich, dass das bei uns anders sein wird. Und ich bin da auch sehr optimistisch. Wir wurden von allen unglaublich gut aufgenommen und herzlich willkommen geheissen.

Blomberg: Ach, eigentlich ist doch vollkommen uninteressant, wie es bisher war! Ich traue immer allen viel zu. Was wir uns nur wünschen können, ist eine gewisse Unvoreingenommenheit. Dass die Stadt sich Zeit gibt, unsere Arbeit kennen zu lernen, sich offen darauf einlässt, nicht gleich urteilt, erst einmal hinschaut. Es braucht einfach Zeit. Denn natürlich wird uns auch nicht gleich alles gelingen. Die Kammerspiele in München, wo Nicolas und ich die letzten drei Jahre gearbeitet haben, ist jetzt im vierten Jahr triumphal als das Theater des Jahres gekürt worden.

Was ist Ihre gemeinsame Vision für das Schauspielhaus Zürich?

Stemann: Wir wollen das Theater in der Stadt verankern und gemeinsam formen, mit einer sehr unterschiedlich zusammengesetzten, siebenköpfigen Gruppe von Hausregisseurinnen und -regisseuren, die mit sehr unterschiedlichen künstlerischen Handschriften arbeiten. Sie kommen aus London, Los Angeles, Athen, Berlin und Basel, und sie leben jetzt in Zürich, sind Teil der Stadtgesellschaft. Und dann wollen wir mit diesen Leuten sehr unverwechselbare, eigenständige, vielleicht auch ganz neue Theaterformen entwickeln. Und das soll eine Wirkung haben, die darüber hinaus geht, was auf der Bühne geschieht. Die Zürcher werden den Unterschied nicht nur im Zuschauerraum erleben, sondern auch dort, wo sie leben und sich treffen, in den Medien und den Diskursen der Stadt.

Blomberg: Und darüber hinaus ist auch das 35-köpfige Spielerensemble, das sich mit den sieben Hausregisseuren und Nicolas hier versammelt hat, so divers, vielsprachig und vielseitig wie die Stadtbevölkerung. Sie alle wissen es: In Zürich leben Menschen aus 170 Nationen, und über 30 Prozent sind nicht deutschsprachiger Herkunft. Zürich ist eine kosmopolitische Metropole. Und wir machen für alle, auch für diese Leute, Theater. Dafür werden wir unter anderem auch alle unsere Aufführungen Englisch übertiteln.

Wenn jemand an Dinnerpartys «Hast du schon gesehen?» sagt, dann folgen Netflix-Serien, Kinofilme, das Opernhaus. Wie wollen Sie das Schauspielhaus wieder ins Gespräch bringen?

Blomberg: Ist doch klar: Indem wir ein Superprogramm machen werden, dem sich einfach niemand entziehen kann! (lacht) Heisst, mit Nicolas’ legendärer «Faust»-Inszenierung zu beginnen, dem Marathon aus «Faust 1» und «Faust 2» und auch mit «Faust 1», wenn Sie das Aufführungserlebnis dosieren wollen. Oder mit Christopher Rüpings «Miranda Julys Der erste fiese Typ», einem der eindrücklichsten Liebesgeschichten der letzten zehn Jahre, wie die britische Tageszeitung «The Guardian» urteilte. Ich bin mir sicher, wenn Sie darin die Schauspielerinnen Maja Beckmann und Henni Jörissen erleben, werden Sie sich gleich mitverlieben. Und ja: Ich glaube, dass Mundpropaganda immens wichtig ist. Es geht darum, dass Sie gar nicht anders können, als in Ihrem Bekanntenkreis von Aufführungserlebnissen zu erzählen.

Stemann: Sicher werden wir uns aber auch als Gesprächspartner zur Verfügung stellen, wo wir es nur können. Wir werden uns ganz sicher nicht verschanzen! Beispielsweise haben Benjamin und ich ein Abo aufgelegt, das «Hallo Zürich» heisst. Bei den darin enthaltenen vier Vorstellungen begrüssen wir das Publikum vor der Aufführung und laden es im Anschluss zum Gespräch ein.

Zuletzt wurden Stücke vor halb leeren Rängen aufgeführt. Setzen Sie sich auch eine bestimmte Zuschauerzahl zum Ziel?

Stemann: Die Auslastung am Schauspielhaus war in den letzten Jahren konstant. Man muss das auch in Relation setzen zum immensen kulturellen Angebot in Zürich. Rund 150 000 Menschen besuchen pro Jahr ein Theater, das ist für eine Stadt, die insgesamt rund 400 000 Einwohner hat, ja gar nicht so wenig! Natürlich müssen und wollen wir dafür sorgen, dass die Leute in unser Theater kommen. Aber wir sind keine deutsche Fernsehanstalt, die sich Quoten auferlegt und, um diese zu erreichen, Massenware produziert. Das ist auch ausdrücklich nicht unser Auftrag. Wir suchen nach einem künstlerisch authentischen Ausdruck – und wir hoffen, dass sich möglichst viele Menschen das anschauen.

Blomberg: Wir sollten aufhören, von einem Zuschauerproblem des Schauspielhauses zu sprechen! Das Theater und seine 150 000 Zuschauer sind kein Problem, sie sind eine wunderschöne Realität. Letztlich zählt für die Spieler wie für das Publikum doch das: Ereignet sich ein Theatererlebnis? Gelingt es, Momente so zu verdichten, dass nichts anderes zählt, als diese gemeinsam zu erleben? Und da haben wir auch schon unzählige Male die Erfahrung gemacht, dass gerade ein kleineres Publikum sich geradezu auf ein Stück einschwören kann und mit sehr starken Eindrücken nach Hause geht. Und auch ganz sicher wiederkommt.

Gibt es einen Augenblick, der stellvertretend für Ihre persönliche «Faszination Theater» steht?

Stemann: Theater kann die Welt verändern. Diese Erfahrung habe ich konkret gemacht bei meiner Arbeit mit Geflüchteten. Und nichts weniger als die Welt verändern wollen wir auch hier. Natürlich kann Theater nicht Probleme lösen, die auch die Politik nicht schafft. Theater aber kann Bilder schaffen, Utopien durchspielen– und die gesellschaftspolitische Wirkung davon, auch ganz konkret, darf man nicht unterschätzen.

Blomberg: Theater macht man nicht alleine, sondern gemeinsam. Dass jeder die Welt anders sieht, erfährt und denkt, ist befruchtend. Und gerade darin liegt die Schönheit des Theatermachens: aus verschiedenen Wirklichkeiten von ganz verschiedenen Menschen ein Ganzes zu schaffen, das kraftvoller ist als die Summe seiner Einzelteile. Das zu erleben, kann auch für das Publikum sehr berührend sein.

 

Tickets zu gewinnen

Das Tagblatt verlost 3×2 Tickets für die Vorstellung von Miranda Julys «Der erste fiese Typ» am Sonntag, 15. September, 18 Uhr. Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Namen, Adresse,
Telefon, E-Mail-Adresse und Betreff Schauspielhaus an: gewinn@tagblattzuerich.ch

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