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Interview

Auch bei der Frauenkampftag-Demo 2023 kam es zu Sachbeschädigungen. Bild: Key

Gerechte Massnahme oder populistische Scheinlösung?

Von: Sacha Beuth

23. Januar 2024

URNENGANG Am 3. März stimmt die Bevölkerung des Kantons Zürich unter anderem über die «Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung», die sogenannte Anti-Chaoten-Initiative der Jungen SVP, sowie einen entschärften Gegenvorschlag des Kantonsrates ab. Im Vorfeld des Urnengangs hat das «Tagblatt» Camille Lothe (30), Wirtschaftsredakteurin und Präsidentin SVP Stadt Zürich, und Lisa Letnansky (39), Dramaturgin und AL-Kantonsrätin, zu einem Rededuell geladen.

Bei der Anti-WEF-Demo in Zürich am Dienstag, 17. Januar, ist es wieder zu Sachbeschädigungen durch die Teilnehmenden gekommen. Hätte dies verhindert werden können, wenn die Anti-Chaoten-Initiative bereits angenommen worden wäre und Gültigkeit hätte?

Camille Lothe: Kaum, denn unbewilligte Demonstrationen wie diese wird es auch nach der Abstimmung über die Anti-Chaoten-Initiative geben. Aber es hätte klare Konsequenzen, weil die Initiative vorschreibt, dass die Teilnehmer und Organisatoren für die bei einer Kundgebung entstandenen Schäden und Kosten zur Verantwortung gezogen werden müssen. Zumindest bis zu einem gewissen Mass.
Lisa Letnansky: Bezüglich der Folgen muss man hier differenzieren. Einerseits geht es um die Sachbeschädigungen, die bereits strafrechtlich verfolgt werden können. Andererseits geht es um die Weiterverrechnung der Polizeieinsatzkosten, was abzulehnen ist, weil man damit eine Art Sonderstrafgesetz für Demonstrierende einführen würde.

Besteht bei der Annahme der Initiative nicht die Gefahr, dass wesentliche Elemente einer freien Demokratie wie das Demonstrationsrecht und die Versammlungsfreiheit zu stark eingeschränkt werden?

Letnansky: Aus meiner Sicht ist das so. Die diesbezüglichen Gesetze in der Schweiz und insbesondere in Zürich sind jetzt schon sehr restriktiv. So ist die Bewilligungspflicht für Kundgebungen eine Einschränkung von unserem Recht auf Versammlungsfreiheit und auf freie Meinungsäusserung. Und die Überwälzung der Polizeieinsatzkosten würde diesen Missstand noch verstärken.
Lothe:
Das Paradoxe an der Initiative ist, dass wir die Pflicht, Kundgebungen den Behörden zu melden, heute schon haben. Wir wollen lediglich ändern, dass die Handhabung nicht von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ist, sondern im ganzen Kanton gleich. Grundsätzlich gilt für Demonstrationen im Kanton Zürich eine Bewilligungspflicht. Die Stadt Zürich will diese jedoch durch die Einführung einer Meldepflicht ersetzen. Bei Ersterer genügt es, eine Kundgebung einfach zu melden, bei Letzterer braucht es eine Bewilligung, die unter anderem auch die Route und die Dauer umfasst. Zudem hat die Polizei eine klare Ansprechperson.

Die Initiative sieht vor, dass friedliche Organisatoren und Teilnehmer kollektiv bestraft werden können, nur weil ein paar Chaoten unter den Teilnehmern Schäden anrichten. Ist das wirklich zielführend?

Lothe: Ich kann hier sogar von linker Seite argumentieren, da mein Vater als Gewerkschafter für das Syndicom den 1.-Mai-Umzug organisiert. Damit der letzte Umzug friedlich verlief, hatte Syndicom Sicherheitskräfte aufgeboten, die verhinderten, dass sich gewaltbereite Angehörige des Schwarzen Blocks in den Umzug einschleusten. Links beweist also, dass es Mittel gibt, um Chaoten vom Kapern einer friedlichen Demo abzuhalten. Anders ist es natürlich, wenn Organisatoren und Teilnehmer wie beim Anti-WEF-Protest eine homogene Gruppe bilden und zu Gewalt aufrufen oder diese zumindest akzeptieren. Dann ist es nicht mehr als recht, wenn sie auch dafür zur Verantwortung gezogen werden.
Letnansky: Dem möchte ich widersprechen. Auch der Anti-WEF-Protest ist laut Medienberichten grossmehrheitlich friedlich abgelaufen. Wegen ein paar Sachbeschädigungen, die es am Rande der Kundgebung gegeben hat, nun sämtliche Teilnehmende zu Kollektivstrafen zu verurteilen, ist undemokratisch.

Nicht wenige Personen und Unternehmen, die durch Demos oder Hausbesetzungen geschädigt wurden, müssen auf zivilrechtlichem Weg versuchen, zu ihrem Geld zu kommen. Warum wurde in der Initiative nicht ein Passus eingebaut, dass diese Aufgabe automatisch den Behörden zufällt?

Lothe: Eine dahingehende Forderung wurde tatsächlich schon bei der Ausarbeitung der Initiative vom Gewerbeverband der Stadt Zürich vorgebracht. Er wollte, dass Ladenbesitzer Schäden durch Demos bei der Stadt Zürich geltend machen können, weil die Täter ja nicht verfolgt werden oder zumindest nicht eruiert werden können und damit die Ladenbesitzer auf den Kosten sitzen bleiben. Weil wir aber bei einem Entwurf gemerkt haben, dass wir bei einem dahingehenden konkreten Vorschlag 48 Gesetzes- und Verordnungsänderungen vornehmen, einen genauen Verteilschlüssel und eine Deckelung bestimmen sowie Zuständigkeiten hätten regeln müssen, haben wir die Initiative bewusst nur als allgemeine Anregung formuliert und wollen diese Details dem Kantonsrat überlassen. Auch im Gegenvorschlag des Kantonsrats ist übrigens keine konkrete Lösung dafür enthalten.
Letnansky: Da sind wir tatsächlich bei einem grossen Problem dieser Initiative. Nämlich, ob sie überhaupt umsetzbar ist. Der Umstand, dass Geschädigte teilweise auf ihren Kosten sitzen bleiben, liegt ja vorab daran, dass die Verursacherinnen oder Verursacher nicht identifiziert werden können. Es verstösst gegen höheres Recht, wenn man für eine Straftat belangt wird, die man nicht selber begangen hat. Das heisst, entsprechende Verurteilungen würden weitergezogen werden, was wiederum hohe Kosten verursachen würde.

Selbst dem bürgerlich dominierten Regierungsrat scheint die Volksinitiative zu weit zu gehen. So musste auf dessen Geheiss der Kantonsrat einen Gegenvorschlag ausarbeiten, über den ebenfalls abgestimmt wird. Würde er die Probleme besser lösen?

Letnansky: Der Gegenvorschlag ist zwar etwas vager formuliert als die Initiative, aus meiner Sicht verstösst er aber immer noch gegen höheres Recht beziehungsweise Menschenrechte. Das liegt vor allem an der Bewilligungspflicht und dass die Kosten «zwingend» weiterverrechnet werden müssen. Lothe: Wir von der SVP sagen zu beiden Vorschlägen ja, da beides eine Verbesserung im Vergleich zum aktuellen Zustand ist. Wir ziehen in der Stichfrage aber die Initiative vor, weil im Vorschlag des Kantonsrates der Teil mit den Hausbesetzern ausgeklammert wurde und weil er bei der Haftung für Schäden «vorsätzliches» Handeln voraussetzt, was sich nur schwer beweisen lässt.

Die Initiative schreibt vor, dass für alle Demonstrationen und «Kundgebungen von einem gewissen Ausmass» eine Bewilligung nötig wird. Was ist mit «gewissem Ausmass» konkret gemeint?

Letnansky: Diese Fragen stellen sich mir auch. Die Initiative ist hier so vage formuliert, dass das für mich nicht nachvollziehbar ist. Ausserdem: Wenn jemand zu einer Kundgebung aufruft, dann weiss man in der Regel im Vorfeld nicht, ob da jetzt 20 oder 2000 Personen kommen. Und man weiss auch nicht, wie diese sich nachher verhalten. Genau weil man dies im Vornherein nicht wissen kann, ist es meines Erachtens unzulässig, die Organisatoren einer Demo für Schäden haftbar zu machen.
Lothe: Das «gewisse Ausmass» ist hier nicht klar definiert, weil es je nach Gemeinde unterschiedlich ist, ab wie vielen Personen man von einer öffentlichen Kundgebung oder Demo sprechen kann. Hier müssen sich die Gemeinden erst noch einigen und dann muss dieses im Kantonsrat festgelegt werden.

Ebenfalls ist im Initiativtext von Kostenüberwälzung bei «ausserordentlichen Polizeieinsätzen» die Rede. Wie ist aus Ihrer Sicht dieser Begriff zu verstehen? Und wie weit soll die «anteilsmässige» Haftung für Einsätze und Schäden reichen?

Lothe: Bezüglich der Kostenübernahme braucht es laut Bundesgericht grundsätzlich einen Verteilschlüssel und eine Deckelung. Entscheiden sollte dies der Kantonsrat, der sich hierzu an Bern und Luzern orientieren könnte, da sprechen wir von bis zu 10 000 Franken für Teilnehmer und bis zu 30 000 Franken für Organisatoren. Aus unserer Sicht sind übrigens «ausserordentliche Polizeieinsätze» grundsätzlich alle unbewilligten Demonstrationen, bei denen es zu Gewalt und Sachbeschädigungen kommt.
Letnansky: Die Polizei muss für spezielle Events immer eine Einsatzplanung machen. Das ist nicht ausserordentlich, sondern normaler Polizeialltag. Warum dann bei Demonstrationen Polizeikosten verrechnet werden sollen und bei anderen Grossevents wie dem Züri Fäscht nicht, ist für mich nicht nachvollziehbar. Zudem habe ich von verschiedenen Polizeivertretern unterschiedliche Definitionen gehört, was ein «aussergewöhnlicher Polizeieinsatz» ist und was nicht. Beim Punkt der Deckelung für die Haftung bin ich der Meinung, dass 10 000 Franken für viele Menschen in der Schweiz sehr viel Geld ist. Jemand, der sich spontan und friedlich einer Kundgebung anschliessen will, weil er deren Inhalte teilt und sein Grundrecht wahrnehmen will, wird sich dies zweimal überlegen. Somit wird die freie Meinungsäusserung indirekt beschränkt.

Zusammengefasst in zwei, drei Sätzen: Warum sollte die Anti-Chaoten-Initiative unbedingt angenommen beziehungsweise abgelehnt werden?

Lothe: Die Initiative ist unbedingt anzunehmen, weil Sachbeschädigungen und Gewalt nicht durch Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht geschützt sind und darum diejenigen, die ein Chaos verursachen, auch die Verantwortung dafür übernehmen sollen.

Letnansky: Die Initiative ist eine populistische Scheinlösung eines Problems und unser Recht auf friedlichen Protest und freie Meinungsäusserung auf unzulässige Art einschränkt. Grundrechte sind unverhandelbar, weshalb sowohl die Initiative wie der Gegenvorschlag unbedingt abzulehnen sind.

Die Anti-Chaoten-Initiative in Kürze

Ausgangslage:
Bei Hausbesetzungen, vor allem aber bei Demonstrationen, kommt es immer wieder zu teils massiven Sachbeschädigungen sowie zu kostspieligen Polizeieinsätzen. Bis anhin können die Polizeikorps beziehungsweise Gemeinden im Kanton nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Kosten dafür den Verursachern in Rechnung stellen wollen.

Die Vorlage zusammengefasst:
Bei der kantonalen «Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung» (Anti-Chaoten-Initiative) geht es im Kern darum, dass «ausserordentliche» Polizeieinsätze im Rahmen von Demonstrationen (=Zug mit Route), Kundgebungen (=Anlass an einem Ort) oder illegalen Hausbesetzungen sowie die Kosten für Sachbeschädigungen im Rahmen solcher Vorfälle in Zukunft von den Verantwortlichen selbst getragen werden. Dabei soll bei unbewilligten Demonstrationen auch auf Veranstalterinnen und Veranstalter oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer zurückgegriffen werden können, selbst wenn diese nicht direkt an einer Zerstörung beteiligt waren. Zudem sollen Veranstaltungen wie Demonstrationen und «Kundgebungen von einem gewissen Ausmass» auf öffentlichem Grund stets bewilligungspflichtig werden.

Das sagen die Befürworter:
Die Junge SVP des Kantons Zürich will mit ihrer Initiative erreichen, dass die Kosten, die bei Kundgebungen und Hausbesetzungen durch Polizeieinsätze und Sachbeschädigungen entstehen, kantonsweit immer die dafür Verantwortlichen, also die Organisatoren beziehungsweise Teilnehmenden, tragen müssen und nicht der Staat oder gar die Geschädigten selbst. Bisher wurde die Überwälzung der Kosten von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich gehandhabt, was aus Sicht der Initianten für Rechtsungleichheit sorgt. Dies sehen auch SVP, EDU, die Jungfreisinnigen des Kantons Zürich sowie der HEV Zürich und der Gewerbeverband so, die darum die Initiative unterstützen. Die EVP befürwortet nur den Gegenvorschlag.

Das sagen die Gegner:
Nach Einschätzung des Regierungsrates greift eine umfassende Bewilligungspflicht ohne Not in die Gemeindeautonomie ein, was abzulehnen ist. Die Auferlegung der Kosten von Sachbeschädigungen oder anderen Schäden im Rahmen von Demonstrationen und anderen Veranstaltungen wird bisher über den Zivilweg geltend gemacht, weshalb für eine zusätzliche Regelung im kantonalen Recht keine Notwendigkeit besteht. Der Regierungsrat hat darum dem Kantonsrat beantragt, die Volksinitiative abzulehnen und einen Gegenvorschlag auszuarbeiten, über den beim Urnengang zeitgleich befunden werden kann. Dieser sieht lediglich vor, die Kostentragungspflicht zu verschärfen, indem Kosten für ausserordentliche Polizeieinsätze in Zukunft zwingend an die Verursacherinnen und Verursacher überbunden werden, sofern diese vorsätzlich gehandelt haben. Eine automatische Kostenabwälzung der Sachschäden auf die Veranstalter beziehungsweise Teilnehmer ist dagegen nicht vorgesehen, da ein Täter bereits heute auf zivilrechtlichem Weg zur Verantwortung gezogen werden kann. Dem links-grünen Lager geht selbst dies zu weit, weshalb SP, AL und Grüne sowohl Volksinitiative wie Gegenvorschlag zur Ablehnung empfehlen.

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