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Interview

Stadtpräsidentin Corine Mauch schwebt für 2024 eine noch aktivere Wohn- und Bodenpolitik vor. Bild: Christian Lanz

«Ich wünsche mir wieder mehr Solidarität»

Von: Sacha Beuth und Ginger Hebel

03. Januar 2024

NEUJAHRSINTERVIEW Stadtpräsidentin Corine Mauch will ohne Steuererhöhungen weiter in die Infrastruktur Zürichs investieren. Sie freut sich auf Grossanlässe wie die Rad-WM und das Trachtenfest

Seit 20 Jahren wächst die Bevölkerung der Stadt kontinuierlich. Inzwischen leben rund 445 000 Menschen in Zürich. Nicht wenigen bereitet dies gerade hinsichtlich steigender Infrastruktur- und Wohnkosten grosse Sorgen. Müsste die Stadt statt Symptombekämpfung zu betreiben, nicht bei der Zuwanderung den Hebel ansetzen, also national Druck ausüben?

Corine Mauch: Zürich hat schon immer viele Menschen angezogen und schon immer von der Zuwanderung gelebt. Von den Fähigkeiten und den Ideen der Zugezogenen hat die Stadt viel profitiert. Ein Bevölkerungswachstum zeigt auch, dass Zürich – und die ganze Schweiz – erfolgreich ist. Bund und Kanton bestimmen über die Raumplanung, dass der grösste Teil des Bevölkerungswachstums im bereits überbauten Gebiet stattfinden soll. Das ist für eine Stadt wie Zürich natürlich eine grosse Herausforderung, dennoch unterstützen wir diesen Weg, weil wir ebenfalls der Meinung sind, dass Zersiedelung und das Verbauen von Grünraum reduziert werden müssen. Wichtig ist, dass wir die mit der Zuwanderung verbundenen realen Probleme mit wirkungsvollen Lösungen anpacken. So scheint mir zum Beispiel klar, dass wir künftig eine noch aktivere Wohn- und Bodenpolitik betreiben müssen, damit Zürich eine Stadt für alle bleibt.

Die Festfreude ist vorbei. Das traditionsreiche Züri Fäscht, das im Juli stattfand und zwei Millionen Menschen anzog, wird es in der heutigen Form künftig nicht mehr geben. Die strengen Auflagen, erschwerten Bedingungen und auch die finanzielle Belastung sind mit ein Grund für die Kündigung der Leistungsvereinbarung seitens des Vereins Zürcher Volksfeste mit der Stadt. Musste es wirklich so weit kommen?

Es hat sich abgezeichnet, denn die Herausforderungen sind kontinuierlich gewachsen. Bedeutend waren die tragischen Ereignisse bei der Love Parade in Duisburg (D), wo Menschen in der Enge der Massen zu Tode kamen. Crowd-Management wird immer bedeutender. Auch am Züri Fäscht hat es kritische Situationen gegeben, zum Glück ist nie etwas Schlimmes passiert. Sicherheit hat oberste Priorität. Auch die Anforderungen in Bezug auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind gestiegen, der Grünraum hat eine immer grössere Bedeutung, nicht zuletzt war es auch zunehmend schwierig, die nötigen Sponsoren-Gelder zu beschaffen. Wir wollen in Zukunft weiterhin ein attraktives, zeitgemässes Stadtfest ausrichten. Fakt ist aber: Wir müssen es grundlegend neu denken. Das braucht Zeit und Ideen.

Apropos Grossanlass. Dieses Jahr wird mit der Rad- und Para-Cycling-WM 2024 nach langer Pause (Leichtathletik-EM 2014) wieder ein grosser, internationaler Sportevent in Zürich ausgetragen. Was für Erwartungen haben Sie an den Anlass?

Ich freue mich sehr auf die Rad-WM, zumal die Rekurse gegen die Streckenführungen zurückgezogen wurden und man Lösungen für alle Beteiligten beziehungsweise Betroffenen finden konnte. Man darf nicht vergessen, dass dies ein Grossanlass ist, der nicht in einem geschlossenen Stadion stattfindet. Insofern war uns auch bewusst, dass die Rennen für die Bevölkerung in den entsprechenden Quartieren eine Belastung sind. Handkehrum ist gerade die Nähe des Events zu den Menschen auch positiv. Man ist mitten im Geschehen. Und was den Event aus Sicht des Stadtrates zudem besonders attraktiv macht: Er passt bezüglich Integration von Menschen mit Behinderungen sehr gut zu Zürich, da die Para-Cycling-Wettbewerbe erstmals an einer WM vollständig eingebunden werden. Es ist grundsätzlich ein Anliegen der Stadt Zürich, dass sportliche oder auch kulturelle Anlässe – 2024 wird unter anderem auch das Trachtenfest stattfinden – bei uns ausgetragen werden können. Wichtig ist, dass sich dabei die Belastungen für die Bevölkerung in einem vertretbaren Rahmen halten.

Streitthema Verkehrspolitik: Spurverengungen an der Bellerive­strasse, geforderte Temporeduktionen an der Rosengartenstrasse und Fahrverbote wie an der Langstrasse: Politisiert man mit den städtischen Verkehrskonzepten nicht an der Praxis vorbei?

Das sind ganz verschiedene Projekte. Die Bellerivestrasse muss umgestaltet und saniert werden, denn sie darf nach geltendem Recht nicht mehr so breit sein, wie sie heute ist. Die Temporeduktion an der Rosengartenstrasse dient dem Lärmschutz. 3000 Anwohnende sind vom Lärm übermässig belastet. Die eidgenössische Lärmschutzverordnung verpflichtet uns dazu, die Betroffenen zu schützen. Tempo 30 ist eine einfache, günstige und rasch umsetzbare Massnahme. Das teilweise Fahrverbot an der Langstrasse war ein jahrelang geplantes Projekt. Es funktioniert gemäss meinen Informationen gut. Ich bin kürzlich mit dem Velo durchgefahren, die Strasse ist befreit vom ewigen Stau, auch der ÖV ist dadurch pünktlicher.

Kürzlich forderten Bürgerliche, dass aus dem Kanton Zürich zwei Kantone – ein Stadt- und ein Landkanton – werden. Käme dies der rot-grünen Mehrheit im Stadtrat nicht entgegen?

Ich finde es falsch, ländliche und städtische Gebiete gegeneinander auszuspielen. Das Miteinander zeichnet die Schweiz aus. Die Entwicklung geht klar in Richtung funktionale Räume. Das spricht gegen eine Schaffung von noch mehr kleinteiligen Strukturen.

Die Vorgehensweise bei Demonstrationen sorgte für Ärger und Unverständnis. Mal wurden unbewilligte Demos unterbunden, mal nicht. Neu braucht es für kleinere Kundgebungen mit bis zu 100 Teilnehmenden keine Bewilligung mehr. Wer aber zählt diese bzw. ist diese Vorgabe nicht realitätsfremd?

Hier muss ich als Erstes betonen, dass dieses neue Konzept aufgrund einer Motion aus dem Gemeinderat erarbeitet wurde. Dieses Geschäft ist aktuell im Gemeinderat hängig. Sollte es umgesetzt werden, dann wird es für Kleindemos einfacher. Wird tatsächlich einmal eine Bewilligung für 100 Personen erteilt und es kommen am Ende 300, dann ist die Stadtpolizei in der Lage, darauf sinnvoll zu reagieren.

Hausbesetzungen sind in der Stadt ein Dauerthema. Mit der Räumung des Koch-Areals wurde dieses Jahr die längste Besetzung Zürichs beendet. Als Konsequenz wurden weitere Häuser und Areale besetzt, darunter die Hardturmbrache. Eine polizeiliche Räumung darf in der Stadt Zürich aber erst erfolgen, wenn eine Baubewilligung vorliegt, eine Neunutzung ansteht oder die Sicherheit gefährdet ist. Wird sich diese Praxis durchsetzen, auch im Hinblick auf die Anti-Chaoten-Initiative, die 2024 zur Abstimmung kommt und rigoroses Durchgreifen erfordert?

Das städtische Merkblatt, welches den Umgang mit Hausbesetzungen handhabt, hat sich bewährt. Es bringt nichts, auf Vorrat Räumungen durchzuführen, weil es ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Besetzenden und der Polizei nach sich zieht. Dadurch wird sinnloser Aufwand betrieben. Es müssen klare Bedingungen erfüllt sein, um eine Hausbesetzung zu beenden, wie ein Strafantrag und eine geplante Neunutzung. Zur Anti-Chaoten-Initiative hat sich der Stadtrat bisher nicht geäussert, darum kann ich hier keine Stellung beziehen.

Der Drogenkonsum scheint in Zürich wieder zuzunehmen. Im Sommer hatte sich in der Bäckeranlage eine neue Drogenszene gebildet, aus den USA drängt das Opioid Fentanyl zu uns und in Sachen Kokainkonsum lag Zürich zuletzt europaweit auf Rang vier. Was unternimmt die Stadt gegen diese Entwicklung?

Wir haben ja mit der offenen Szene am Platzspitz und am Letten seinerzeit viele Erfahrungen gesammelt und dazu als Gegenmassnahme das 4-Säulen-Prinzip – Prävention, Repression, Überlebenshilfe und Therapie – entwickelt, das sich bewährte und von anderen Schweizer Städten übernommen wurde. Allerdings können wir uns in der Tat nicht ausruhen. Handkehrum wollen wir bei der Bäckeranlage auch nicht einfach mit repressiver Kraft einfahren, weil dann die Gefahr besteht, dass die Szene ins Quartier ausweicht. In Sachen Fentanyl haben wir uns mit unserer Partnerstadt San Francisco ausgetauscht, die bereits Erfahrungen mit dieser Droge gemacht hat. Bis jetzt ist Fentanyl in Zürich noch nicht für uns sichtbar aufgetaucht, dennoch haben wir schon jetzt ein Augenmerk darauf.

Das Pilotprojekt «Züri Can» erlaubt den kontrollierten Cannabis-Verkauf zu Genusszwecken. Motiviert man die Leute so nicht erst recht zum Drogenkonsum?

In Zürich konsumieren 140 000 bis 155 000 Menschen mindestens einmal pro Jahr Cannabis. Wir wollen die Augen nicht vor der Realität verschliessen, sondern uns mit ihr auseinandersetzen. Aus diesem Grund engagiert sich die Stadt Zürich für eine Regulierung des Cannabiskonsums. Wir versprechen uns durch dieses dreijährige Pilotprojekt, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen.

Kommen wir zur Kultur. Die beiden Zürcher Kleintheater STOK und Keller 62 stehen vor dem Aus, während renommierte Häuser weiterhin grosszügig subventioniert werden. Warum wird einem Opernhaus mehr Bedeutung beigemessen als kleinen Traditionsbühnen?

Ich wehre mich vehement dagegen, dass unterschiedliche Kulturinstitutionen gegeneinander ausgespielt werden. Es braucht die Grossen und die Kleinen. Kultur liegt mir am Herzen. Der Stadtrat und der Gemeinderat haben gemäss Volksentscheid über die erstmalige Vergabe mehrjähriger Förderbeiträge beschlossen. Ab diesem Jahr werden Tanz- und Theaterinstitutionen sowie Künstlerinnen und Künstler der freien Szene aufgrund der von ihnen eingereichten Konzepte gefördert. Zu laufenden Rechtsverfahren kann ich mich leider nicht äussern, aber: Ich will nicht, dass Theater schliessen müssen.

Zu reden gab 2023 in Sachen Kultur ebenfalls die historische Aufarbeitung der Bührle-Sammlung wegen ihrer zahlreichen Nazi-Raubkunst-Exponate. Kann man die Sammlung nun wieder mit gutem Gewissen besuchen?

Es würde niemandem etwas nützen, wenn man diese Sammlung mit schlechtem Gewissen besucht. Aber es ist richtig, sich mit den Hintergründen auseinanderzusetzen. Durch die Neugestaltung der Präsentation, die auch die Herkunft der Werke thematisiert, erhalten die Besuchenden viel mehr Möglichkeiten, sich mit der Geschichte hinter den Exponaten auseinanderzusetzen. Die Ausstellung zeigt, dass es eben nicht nur eine Sicht auf diese Sammlung gibt, sondern mehrere Perspektiven. Es kann sehr wohl schmerzen, wenn man sich die Bilder anschaut und weiss, was für grauenhafte Schicksale die Vorbesitzenden erleiden mussten. Ausserdem ist noch eine Evaluation der bisherigen Provenienzforschung zur Sammlung im Gange. Die gegenwärtige Ausstellung ist kein Schlusspunkt, sondern Teil eines Prozesses.

Der Nahostkonflikt bereitet insbesondere den jüdischen Mitbürgern unserer Stadt grosse Sorgen. Viele fühlen sich auch hier nicht mehr sicher.

Was im Nahen Osten passiert, ist einfach nur schrecklich. Dass in Zürich nach dem grausamen terroristischen Angriff der Hamas sogar Schulkinder mit antisemitischen Sprüchen und Beschimpfungen konfrontiert sind, ist absolut inakzeptabel. Die Stadt – auch die Stadtpolizei – steht im engen Kontakt mit den jüdischen Gemeinden. Es ist ganz klar die Aufgabe der Stadt, Menschen, die hier leben, zu schützen, damit sie sich sicher fühlen können.

Seit Sommer 2023 ist die Tagesschule das offizielle Schulmodell. Wie ist die bisherige Resonanz der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern dazu?

Wir haben bei der Tagesschule eine Teilnahmequote von über 85 Prozent. Das zeigt, dass sie einem breiten Bedürfnis entspricht. Ein wichtiges Ziel dabei ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Attraktivität der Stadt Zürich für Familien. Gegenwärtig sind 34 von 105 Schulen Tagesschulen. Wir wollen bis in sieben Jahren alle Schulen in das neue Modell überführen.

Schulen kosten Geld, womit wir bei den Finanzen der Stadt angelangt wären. Hier fällt mit der Übernahme der CS durch die UBS ein wichtiger Steuerzahler weg. Ist schon klar, wie die dadurch entstandenen Ausfälle kompensiert werden? Und müssen die Steuern im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen nicht allgemein wieder erhöht werden?

Im Moment ist noch nicht klar, welche Auswirkungen das Aufgehen der CS in die UBS für die städtischen Finanzen haben wird. Es gibt bislang auch keine Indizien, dass wir mit einem grösseren Steuereinbruch rechnen müssen. Allgemein bleibt es unser Ziel, weiter in die Stadt, in ihre Infrastruktur, das Soziale, die Kultur oder auch den Sport zu investieren. Generell sind unsere Finanzen seit vielen Jahren stabil, wir haben schon seit langem den gleichen Steuerfuss und mittlerweile ein hohes Eigenkapital von gut zwei Milliarden Franken. So könnten wir auch Steuerausfälle auffangen. Sparprogramme und Steuererhöhungen sind gegenwärtig nicht nötig. Im Hinblick auf die zusätzlichen Aufgaben, die mit dem Bevölkerungswachstum auf uns zukommen, sind allerdings auch Steuersenkungen nicht angebracht.

Zum Schluss noch ein positiver Blick ins neue Jahr. Was muss man 2024 in Zürich unbedingt erleben?

Ich nenne hier mal die Rad-WM und das Trachtenfest. Zwei unterschiedliche Anlässe, die aber die Vielfalt unserer Stadt prima widerspiegeln. Mit Blick über den Stadtrand hinaus und in die Konfliktherde dieser Welt ist mein grösster Wunsch, dass wir 2024 wieder mehr Gemeinschaft und Solidarität erleben und mehr Menschen so wie wir in Frieden leben können.

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