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Trampilot David fährt eine verwirrte Seniorin durch das weihnachtliche Zürich. Symbolbild: PD

Eine Tramfahrt mit Folgen

Von: Eine Weihnachtsgeschichte von Sacha Beuth

19. Dezember 2023

Trampilot David kann ein Versprechen nicht halten, dass er einer seiner Töchter gegeben hat. Nun hängt kurz vor Weihnachten der Haussegen schief, bis eine Begegnung mit einer alten, verwirrten Dame alles ändert.

Die schlechte Laune stand David noch immer ins Gesicht geschrieben, als er am frühen morgen den Fahrerstand einer 6er-Tramkomposition betrat. Während er sich einrichtete, dachte er an das Gespräch, das er gerade mit seinem Vorgesetzten hatte, und fluchte leise vor sich hin. Einmal kurzfristig den Arbeitsplan ändern! Das muss doch möglich sein! Jetzt, wo seine 8-jährige Tochter Samira doch noch am Krippenspiel der Kirche teilnehmen konnte, nachdem die eigentlich für die Rolle der Maria vorgesehene Schülerin wegen Röteln ausgefallen war. Samira war die Aufgabe ungeheuer wichtig. Tag und Nacht übte sie seither ihren Text, wobei David, seine Frau Sonja und Samiras ältere Schwester Salome in die übrigen Rollen der Geschichte schlüpfen mussten. «Gell Papi, du kannst sicher freinehmen und kommst auch zur Aufführung. Ich freue mich ja so!»

Natürlich hatte David es versucht. Doch keiner der Kollegen konnte oder wollte tauschen. Bei den meisten hatte er Verständnis. Nur beim kinderlosen und verschlossenen­ Eduard nicht. Der hatte, seit er vor sechs Jahren von Dresden zur VBZ gestossen war, noch nie über die Weihnachtstage arbeiten müssen. So wunderte er sich auch nicht gross, als Eduard seine Frage nach Dienstabtausch mit einem kurzen «Nein, das geht nicht» abtat. «War ja klar», dachte David. «Da drückt noch die DDR-Mentalität durch. Dienst nach Vorschrift und keinerlei Flexibilität.» Blieb nur der Weg über den Vorgesetzten, bei dem David aber ebenfalls auf Granit biss. Und als er es wagte anzuführen, dass doch auch der Kollege Eduard einmal einspringen könnte, hiess es nur: «Darüber zu entscheiden, ist nicht Ihre Sache. Geben Sie das nächste Mal Ihre Freitagswünsche einfach früher ein.»

Während David mit dem 6er aus dem Depot fuhr, plagten ihn die Gedanken, wie er seine Absenz beim Krippenspiel Samira erklären sollte. Schon einmal hatte er eine wichtige Aufführung von ihr – ein Eiskunstlaufwettbewerb auf dem Dolder – verpasst. Damals war es seine eigene Schuld gewesen. Am Vorabend hatte er mit Freunden die Nacht durchgefeiert und es dann nicht mehr rechtzeitig zur Eisbahn geschafft. Das tiefenttäuschte Gesicht von Samira würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen. Zumal es doppelt schmerzte, da Samira das typische «Papikind» war, während Salome ihrer Mutter näherstand. So hatte er sich geschworen, nie mehr eine Aufführung von Samira zu verpassen, und dies seiner Tochter auch laut kundgetan. Und nun sollte es wieder so kommen, wenn er auch nichts dafür konnte – doch würde sie es verstehen?

Tränen der Enttäuschung

Mit dem Dienstende kam der Abend und mit ihm der Moment der Wahrheit. Nach dem Abendessen zog David Samira zur Seite, nahm allen Mut zusammen und sagte seufzend: «Hör mal, Samira. Wegen des Krippenspiels. Es ist so: Ich kann nicht dabei sein. Ich muss arbeiten und kann den Dienst nicht verschieben. Ich habe wirklich alles versucht, glaub mir.» Samiras Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. David versetzte es einen Stich ins Herz. «Aber ich machs wieder gut», fuhr er verzweifelt fort. «Ich versprechs. Wir gehen dafür zusammen ein Wochenende in der Romandie reiten. Nur du und ich. Das hast du dir doch schon lange gewünscht.» Doch Samira war damit nicht zu besänftigen. Die Enttäuschung war zu gross. «Du hast schon einmal versprochen, dass du eine Aufführung von mir nicht mehr versäumst. Du hast es fest versprochen! Und jetzt brichst du dein Versprechen!» Samira redete sich in Rage. «Weisst du was: Ich will diesen blöden Reitausflug gar nicht machen. Schon gar nicht mit dir. Mach ihn doch alleine.» Wutentbrannt stapfte sie in ihr Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und heulte hemmungslos. David wusste, dass er jetzt für Samira zur Persona non grata geworden war. Hilfesuchend sah er stumm zu Sonja, die sich darauf erhob und sich in das Zimmer von Samira begab. Als sie nach einer Weile wieder zurückkam, schüttelte sie den Kopf und sagte: «Keine Chance. Sie will es nicht verstehen und von dir nichts wissen – zumindest für eine Weile nicht.»

Zwei Tage vor der Aufführung an Heiligabend war die Stimmung in Davids Familie noch immer auf dem Tiefpunkt und er selbst froh, dass er die Spätschicht zu übernehmen hatte und somit den vorwurfsvollen Blicken Samiras entgehen konnte. Wehmütig betrachtete er bei der Station Zoo die Eltern, die mit ihren Kindern nach einem erlebnisreichen Tag im Tiergarten glücklich und zufrieden zu ihm ins Tram stiegen. Mit Samira war er ebenfalls oft in den Zoo gegangen. Diese Ausflüge würde er sich wohl bis auf Weiteres abschminken können.

Inzwischen hatte das Wetter umgeschlagen. Die Temperaturen waren gesunken und der feine Regen hatte ebenso feinem, aber äusserst intensivem Schneefall Platz gemacht. Der schien seinen Höhepunkt zu erreichen, als David um 0:41 Uhr vom Zoo aus seine letzte Fahrt vor Dienstschluss unternahm. Weit kam er allerdings nicht. Bereits kurz vor der Haltestelle Susenbergstrasse entdeckte er plötzlich eine Gestalt auf den Schienen, die ihn zu einer Vollbremsung nötigte. Zu einer anderen Tageszeit wären die Passagiere übereinandergefallen, jetzt aber waren die Waggons leer. So konnte David umgehend das Tram verlassen und auf die bewegungslos am Boden sitzende Gestalt zugehen. Es war eine etwa 80-jährige Frau, die sich wohl aus Erschöpfung einfach auf die Gleise gesetzt hatte und ihn verwirrt ansah. «Gute Frau, ist alles in Ordnung bei Ihnen?», fragte David. «Mir ist etwas kalt und ich mag alleine nicht mehr aufstehen. Können Sie mir helfen?», fragte sie mit einem seltsamen deutschen Akzent. «Aber natürlich. Wohnen Sie hier in der Nähe?» Die Frau blickte ratlos um sich. «Das weiss ich nicht. Aber mein Ede weiss es sicher. Wissen Sie, er ist nämlich mein Sohn.» «Und wie kann ich Ede erreichen?» «Ja, äh – er hat mir die Nummer mal gesagt, aber – herrjeh, ich glaube, ich habe sie vergessen», stammelte die Frau. «Das finden wir schon heraus. Jetzt kommen Sie erst mal zu mir ins Tram, wärmen sich auf und dann sehen wir weiter», meinte David bestimmt.

Die Suche nach Ede

Er platzierte die Seniorin auf den Sitz direkt hinter der Führerkabine, gab ihr aus seiner Thermoskanne, die er immer mit sich führte, einen heissen Tee zu trinken und verständigte die Zentrale. «Ich habe hier eine alte Frau aufgegabelt, die sich bei der Susenbergstrasse mitten auf die Gleise gesetzt hatte. Sie ist offenbar völlig von der Rolle und weiss nicht mal, wo sie wohnt. Ich nehme Sie mit und bringe sie bei nächster Gelegenheit auf einen Polizeiposten.» Darauf wendete er sich wieder seiner Passagierin zu und fragte: «Wie heissen Sie eigentlich?» «Käthe Loschwitz.» «Also Frau Loschwitz, wir machen jetzt zusammen eine kleine Tramfahrt und ich bringe Sie zur Polizei, wo man ihren Ede ausfindig machen wird. Haben Sie Hunger?» «Ich glaube schon. Ich weiss gar nicht mehr, wann ich zuletzt etwas gegessen habe.» David überreichte der Dame ein Käse-Gurken-Sandwich, das er eigentlich selbst hatte zum Abendbrot essen wollen, aber bislang aus Kummer nicht hatte verdrücken können. Umso mehr freute er sich, nun eine dankbare Abnehmerin gefunden zu haben. «Die schmeckt gut, die Stulle. Sie sind so ein netter Mann, wie mein Ede», lobte Käthe Loschwitz und begann dann weiter von ihrem Sohn zu erzählen, der der Liebe wegen nach Zürich gezogen war, aber vor ein paar Jahren von seiner Schweizer Frau verlassen worden sei. Und der seine Mutter zu sich geholt hatte, als Edes Stiefvater verstorben und sie ganz allein war.

David hörte nur mit halbem Ohr hin. Später auf dem Polizeiposten erzählte er, was vorgefallen war, dann wurde die Seniorin vernommen. Anschliessend warteten sie zusammen, bis nach einer Weile ein Polizist zu ihnen kam und sagte: «Wir haben ihren Sohn gefunden, Frau Loschwitz. Er wird Sie gleich abholen.» Und an David gewendet: «Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie können jetzt nach Hause. Wir werden Sie kontaktieren, falls noch weitere Fragen auftauchen sollten.» Erleichtert erhob sich David, verabschiedete sich von Frau Loschwitz und machte sich auf den Heimweg.

Schliesslich war der 24. Dezember gekommen. Noch immer hatte Samira kein Wort mit ihrem Vater gewechselt, weshalb sich David am Morgen bedrückt zum Depot aufmachte, um seinen Dienst anzutreten. Kaum dort angekommen, trat ihm Eduard in den Weg. «Ich, äh, möchte mich bei dir bedanken», druckste er, während ihn David erstaunt ansah. «Wegen meiner Mutter. Du hast dich doch so liebevoll um sie gekümmert, als sie in der Stadt herumgeirrt war. Einmal hatte ich nicht aufgepasst und da war sie plötzlich aus unserer Wohnung nach draussen gelaufen. Weisst du, sie ist nämlich dement und hat ausser mir niemanden mehr.»

Während David Eduard nur baff anstarrte, fuhr dieser mit seiner Erläuterung fort. «Die Situation ist dadurch sehr belastend. Einerseits psychisch, weshalb auch meine Ehe zu Bruch ging. Andererseits aber auch finanziell. Denn wenn du mal Unterstützung bei der Pflege brauchst, geht das schnell ins Geld. Und du weisst ja selbst, wie viel man als Trampilot verdient.» Dennoch wollte er seine Mutter «nicht einfach wegschliessen lassen», sondern für sie so gut es geht da sein. «Aber ausserplanmässig für einen Kollegen einspringen liegt nicht drin.» Heute sei das für einmal anders. «Heute übernehme ich deinen Dienst. Ich habe eine Pflegekraft für meine Mutter engagiert und mit unserem Chef ist ebenfalls schon alles geklärt. Viel Spass beim Krippenspiel deiner Tochter. Und frohe Weihnachten!» Während sich Eduard abdrehte und das Tram bestieg, hatte sich David noch immer nicht von seinem Erstaunen erholt. Erst als Eduard losfuhr, rief er ein «Danke. Danke. Und ebenfalls frohe Weihnachten» hinterher. Dann lief er schnurstracks und innerlich jubelnd zur Kirche. Die war an diesem Morgen gut gefüllt, so dass sich David mühsam nach vorne zu seiner Familie durchkämpfen musste. Samira hatte sich das Maria-Kostüm bereits angelegt und wollte eben hinter die Bühne, als sie ihren Vater erblickte. «Papiiiii», schrie sie, fiel ihrem Vater in die Arme und sagte dann jauchzend. «Du hast es doch geschafft! Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten.» «Ich habs doch versprochen», sagte David nur und drehte den Kopf ein wenig ab, um seine Tränen zu verbergen.

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