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Freude wecken und erhalten

Von: Ginger Hebel

05. September 2023

Vor Kurzem hat das neue Schuljahr begonnen. Junglehrer Nils Würgler startet mit einer 1./2.Primarklasse in seine berufliche Zukunft. Barbara Reinthaler blickt auf 37 Jahre Erfahrung als Kindergärtnerin und Primarlehrerin zurück. Sie sprechen über die Schule von heute, renitente Kinder und gerechte Noten. Von Ginger Hebel

Mit dem Start ins neue Schuljahr beginnt die offizielle Einführung der Tagesschulen als Regelmodell. 34 von 102 Zürcher Schulen haben bereits auf dieses Modell umgestellt, auch die Schule Mattenhof in Schwamendingen. Hier unterrichten Nils Würgler (25) und Barbara Reinthaler (59). Der Junglehrer betreut im Vollzeit-Pensum zirka 80 Schülerinnen und Schüler der 1. bis 4. Klasse. Barbara Reinthaler unterrichtet Teilzeit die 1./2. Klasse.

Warum sind Sie Lehrer / Lehrerin geworden?

Barbara Reinthaler: Ich bin ausgebildete Kindergärtnerin und arbeitete 18 Jahre in diesem Beruf, zuerst Vollzeit, dann als Vikarin. In den Neunzigerjahren waren Co-Leitungen und reduzierte Pensen noch nicht erlaubt, heute ist das Teilzeitmodell gang und gäbe. Ich bin durch die Vikariate mit einem Bein zum Glück immer im Beruf geblieben, das hat vieles erleichtert. Später absolvierte ich den Stufenumstieg zur Primarlehrerin. Warum ich nach all den Jahren immer noch unterrichte? Weil es mir Freude macht, mit Kindern zu arbeiten und auf ihre Bedürfnisse – und auf diejenigen der Eltern – einzugehen. Ich unterrichte alle Fächer gern, denn es spielt keine Rolle was, sondern wie man den Stoff vermittelt.

Nils Würgler: Ich leistete meinen Zivildienst an einer Schule, das hat mich beeindruckt. Auslöser für meinen Berufsentscheid war aber auch die Komödie «Fack ju Göhte.» Mich hat fasziniert, wie es dem Lehrer im Film gelungen ist, Kinder und Jugendliche in den Bann zu ziehen und für die Schule zu begeistern. Auch ich möchte meinen Schülerinnen und Schülern dabei helfen, ihre eigenen Stärken zu finden und auf einen guten Weg zu kommen.

Im Juli geborene Kinder müssen als Jüngste mit vier Jahren in den Kindergarten. Viele tragen noch Windeln. Mit sechs Jahren sind sie Erstklässler. Sind sie dann bereits selbständig genug?

Reinthaler: Kinder sind verschieden. Vierjährige können sehr selbständig sein. Für Kindergarten-Lehrpersonen ist es aber tatsächlich ein Problem, wenn sie 20 Kinder auf einmal betreuen und nebenbei noch Windeln wechseln müssen. Kinder, die früh in den Kindergarten kommen, sind auch in der 1. Klasse noch sehr jung. Es ist unsere Aufgabe, den Unterricht entsprechend anzupassen, mit mehr Pausen und Spielmöglichkeiten. Hier bringt das Altersdurchmischte Lernen (AdL) grosse Vorteile. Erst- und Zweitklässler besuchen dieselbe Klasse, die Grösseren unterstützen die Kleinen in einem Gotti/Götti-System.

Würgler: Das Altersdurchmischte Lernen ist wirklich ein Geschenk, alle lernen mit- und voneinander. Für die Erstklässler ist der Wechsel vom Kindergarten eine riesige Umstellung. Plötzlich müssen sie lange stillsitzen, aufmerksam sein. Sie wollen natürlich noch spielen. Auch wenn es in der Schule ernster ist: Ich finde es wichtig, dass ein Kind noch Kind sein darf.

3860 Erstklässler wurden in der Stadt Zürich eingeschult. Wie ist die Stimmung in der Klasse?

Reinthaler: Ich erlebe die Kinder als wahnsinnig motiviert. Sie geben sich Mühe und wollen es gut und richtig machen. Dabei sind sie mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Sie müssen sich mit bis zu sechs Lehrpersonen auseinandersetzen, auch über Mittag werden sie von einem wechselnden Team betreut. Ich staune immer wieder, wie anpassungsfähig Kinder sind. Manch Erwachsener hätte wohl mehr Mühe damit.

Hochdeutsch sprechen im Klassenzimmer, aufstrecken und warten, bis man aufgerufen wird. Welche Regeln sind Ihnen wichtig?

Würgler: Dass wir uns ausreden lassen, nicht immer reinreden. Wir versuchen zusammen eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, in der das Lernen Freude macht und nicht nur Pflicht bedeutet.

Reinthaler: Das wichtigste Ziel ist, dass es allen wohl ist. Ist das nicht der Fall, fällt das Lernen schwer. Ich sehe es als meine Aufgabe, Freude zu wecken oder zu erhalten. Wir probieren Hochdeutsch zu sprechen, aber es ist natürlich ungewohnt für die Kinder, die sich im Dialekt verständigen. Wir üben es, genau wie das Aufstrecken. Es ist ein Lernprozess.

Der Leistungsdruck nimmt spätestens in der fünften Primarklasse zu. Noten sind entscheidend für die spätere Laufbahn. Manche Lehrer verteilen Sechser wie warme Weggen, andere benoten strenger, auch Wohlwollen spielt eine Rolle. Gibt es gerechte Noten?

Reinthaler: In Fächern wie Mathematik schon, da lässt sich erkennen, was richtig und was falsch ist. Aber es gibt Fächer, da fällt die Benotung schwerer, es ist subjektiver. Darum sind Elterngespräche auch so wichtig. Mir persönlich entspricht es mehr, die Leistungen eines Kindes in Worten auszudrücken. Hauptsächlich zeigen Lernzielkontrollen auf, wo Förderbedarf besteht und es Unterstützungsmassnahmen braucht. Entscheidend ist ja, dass ein Kind die Thematik versteht. Noten sind bei Kindern und Eltern aber schon früh ein Riesenthema.

Würgler: Schulnoten sind dann gerecht, wenn sie keine Momentaufnahme bilden. Ich bin kein Fan von Prüfungen fürs Auswendiglernen. Eindrücke aus dem Unterricht sind für die Benotung entscheidend. Wenn ein Kind immer mitmacht, sich engagiert, aber bei Prüfungen das Wissen nicht abrufen kann, dann runde ich sicher auf und nicht ab. Tendenziell möchte ich ja keine schlechten Noten verteilen.

Mobbing, schulischer Druck, Prüfungsangst. Befragungen der Schulgesundheitsdienste zeigen: Kinder leiden bereits im jungen Alter unter depressiven Verstimmungen. Wie reagieren Sie als Lehrperson?

Reinthaler: Das sind heikle Themen, die Unterstützung erfordern, durch die Eltern und Fachstellen. Die Schule allein kann nicht alles lösen. Wir haben ein Gewaltpräventionsprogramm an unserer Schule und neu Konfliktlotsen, das sind ältere Kinder, die helfen, Probleme von Mitschülerinnen und Mitschülern zu lösen. Das Angebot ist niederschwellig, denn oft getrauen sich Kinder nicht, ihre Sorgen mit Erwachsenen zu besprechen.

Würgler: Das Thema offen angehen, ist entscheidend. Kinder, die andere mobben, wissen oft gar nicht, was sie da tun und auslösen. Darum ist reden so wichtig, auch mit den Eltern. Ich schaue hin und höre zu. Und ich versuche zu vermeiden, dass es in meinem Klassenzimmer Leistungsdruck gibt. Wie das gelingt? Weniger stiere Prüfungen, mehr Beurteilungsraster. Die Zusammensetzung einer Deutschnote muss nicht nur aus Texten erfolgen, die fehlerfrei geschrieben sind. Es kann auch ein Gedichtvortrag sein, wo das Schauspielerische ebenfalls eine Rolle spielt, die Präsentation. Man muss und kann nicht alles gut können.

Eltern mischen sich zunehmend in das Schulgeschehen ein, weil sie für ihr Kind das Beste wollen. Ist die Elternarbeit für Sie anspruchsvoller geworden?

Reinthaler: Ich erlebe die Eltern als sehr wohlwollend. Sie suchen den Kontakt zu den Lehrpersonen, wenn ein Missverständnis besteht. Oft lassen sich Konflikte bilateral klären. Früher gab es nur Elterngespräche, wenn etwas nicht gut lief. Heute ist das zum Glück anders. Durch den regelmässigen Austausch entsteht auch ein Vertrauensverhältnis.

Würgler: Eltern sollen mitreden dürfen. Schliesslich kennen sie ihr Kind am besten. Mein Job als Lehrer ist es aber auch, meine Werte zu vermitteln und das Kind zu einem demokratischen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen. Die Zusammenarbeit ist entscheidend und sie verlangt Respekt.

Radau-Schüler bringen Lehrpersonen an ihre Grenzen. Wie gehen Sie mit renitenten Kindern um?

Reinthaler: Meine Erfahrung zeigt, dass Kinder sich oft dann aufmüpfig verhalten oder den Unterricht stören, wenn sie sich selber in einer Notsituation befinden, sie belastet sind und Hilfe benötigen. Eine Lehrperson muss auf die Bedürfnisse eines Kindes eingehen können. Manchmal ist eine Situation aber einfach nicht mehr tragbar. Wenn alle Beteiligten alles erfolglos probiert haben, müssen andere Lösungen gefunden werden. Wir können uns zum Beispiel Unterstützung bei der Schulsozialarbeiterin holen oder auch das Fachzentrum Schwamendingen miteinbeziehen.

Würgler: Unsere Dozentin an der Pädagogischen Hochschule hat etwas Gutes gesagt: Schwierige Kinder werden diejenigen sein, die uns am meisten am Herzen liegen. Ich war selber kein ruhiger Schüler. Im Grunde wollen Kinder Aufmerksamkeit. Sie meinen es in diesem Alter selten böse.

Verhaltensauffällige Schüler wurden früher in Kleinklassen oder Sonderschulen unterrichtet. Heute werden sie in die Regelklasse integriert. Ist das richtig?

Würgler: Definitiv. Es geht nicht, jemanden als Sonderschüler abzustempeln. Verschiedene Kinder bringen Dynamik ins Schulzimmer, davon profitieren letztlich alle.

Reinthaler: Alle Kinder sind Teil unserer Gesellschaft, darum ist das integrative Modell für mich das Richtige.

Mit diesem Schuljahr beginnt die Einführung der Tagesschulen als Regelmodell. Besitzt die Schule einen Erziehungsauftrag?

Reinthaler: Es entspricht dem gesellschaftlichen Wandel, dass viele Mütter und Väter arbeiten wollen oder müssen. Die Wirtschaft braucht Fachkräfte. Da muss die Schule Hand bieten. Unsere Schule wird seit dem Schuljahr 21/22 als Tagesschule geführt, täglich bleiben bis zu 200 Kinder in der Mittagsbetreuung, die Eltern schätzen diese Unterstützung. Es braucht in der Erziehung auch die Schule.

Würgler: Für mich als Junglehrer ist das Tagesschulmodell neu. Es ist ein faires Angebot, wer es nicht in Anspruch nehmen will, kann sein Kind von dieser Struktur abmelden. Ernährung spielt bei Kindern eine wichtige Rolle, ich finde, das gelingt an unserer Schule sehr gut. Auch wir Lehrpersonen dürfen hier essen, es gibt immer Gemüse, Früchte, Gerichte aus allen Ländern.

Der Lehrermangel ist nach wie vor akut. Auch Personen ohne Lehrdiplom dürfen unterrichten, um die Lücke zu schliessen. Stört Sie das?

Reinthaler: An unserer Schule unterrichten viele Quereinsteiger und auch schon Personen ohne Lehrdiplom. Sie haben sich bewusst für diesen Beruf entschieden, sind motiviert und mit Freude dabei. Das zählt.

Würgler: Ich finde es primär schade, dass es zu wenig Lehrpersonen gibt. Ich kenne selber viele Studienkollegen, die leider gar nie in den Beruf eingestiegen sind. Es ist ein anspruchsvoller Job. Durch die Möglichkeit der flexiblen Teilzeit-Arbeit ergeben sich aber auch neue Chancen.

Die Leistung von Viertklässlern hat sich gemäss aktuellen Auswertungen in den letzten Jahren verschlechtert. Viele können zudem nicht mehr richtig lesen und schreiben. Woran liegt das?


Reinthaler: Es ist schon so: Die Pandemie hat Auswirkungen auf das Bildungsniveau. Es war für Lehrpersonen nicht einfach, die Kinder zu Hause zum Lernen zu motivieren. Auch die Anforderungen haben sich geändert. Neue Medien sind ein grosses Thema, welches Zeit kostet. Dadurch tritt der Umgang mit der Deutschen Sprache sowie der Rechtschreibung möglicherweise etwas in den Hintergrund.

Würgler: Corona ist sicher ein Grund. Wenn ich aber sehe, was Kinder in der Primarschule heute können müssen, dieser ganze Kompetenzen-Katalog, da finde ich nicht, dass das Bildungsniveau schlechter geworden ist; die Anforderungen sind einfach gestiegen. Auch bei den Gymi-Prüfungen.

Muss ein Kind lesen und schreiben können, wenn es in die 1. Klasse kommt?

Reinthaler: Nein, das erwarte ich sicher nicht. Wir müssen es ihnen beibringen. Wenn ein Kind aber bereits erste Erfahrungen mit Wörtern gemacht hat und sich im Zahlenraum von 1 bis 25 orientieren kann oder Würfelzahlen kennt; das hilft sicher.

Würgler: Ein Kind muss definitiv nicht schon lesen und schreiben können, dafür sind wir ja da. Im Vorfeld Kontakt mit Literatur ist sicher gut, weil es dann schon mal geschriebene Wörter gesehen hat und leichter zuordnen kann. Die Schule soll genderneutral sein.

Heute müssen Mädchen und Buben in den Werk- und Handarbeitsunterricht.

Würgler: Das ist auch gut so. Wichtig ist mir, dass man es schafft, diese Fächer spannend zu gestalten und den Schülerinnen und Schülern den zukünftigen Wert der Sache zu vermitteln. Ich konnte mich damals nicht für die Handarbeit interessieren, was ich heute schade finde. Ich kann nämlich nicht mal einen Knopf annähen, ich muss immer meine Freundin fragen (lacht).

Reinthaler: So haben alle die Gelegenheit herauszufinden, was sie interessiert oder was ihnen entspricht.

Was würden Sie am heutigen Schulsystem ändern?

Reinthaler: Ich sehe mich als Bestandteil dieses Systems. Die Schule ist eine lernende Institution, welche sich den laufend verändernden Bedürfnissen anpasst. Ich befürworte und schätze den steten Wandel.

Würgler: Der Lehrplan 21 ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Was aus meiner Sicht aber zu kurz kommt, sind die überfachlichen Kompetenzen, das Soziale, was das spätere Leben ausmacht. Die Schule darf nicht nur den Kopf fördern, sondern auch das Herz.

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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