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Hinter der Kamera für die Zürcher Praesens-Film AG Ende der 1940er-Jahre (v.l.): Die Regisseure Hermann Haller und Leopold Lindtberg mit den Kameramännern Emil Berna und Franz Vlasak. Bild: Cinémathèque suisse/Egon Priesnitz

Von Zürich bis Hollywood

Von: Jan Strobel

19. Januar 2024

Mit seiner aktuellen Ausstellung «Close-up. Eine Schweizer Filmgeschichte» würdigt das Landesmuseum die 100-jährige Geschichte der Zürcher Filmproduktionsfirma Praesens-Film. 

Im März 1930 erlebte die Schweiz ihren ersten Kinoskandal. Im Zürcher Apollo an der Stauffacherstrasse feierte der populärwissenschaftliche Aufklärungsfilm «Frauennot – Frauenglück» der sowjetischen Regisseure Eduard Tisse und Sergei Eisenstein seine Weltpremiere – und rüttelte an einem gesellschaftlichen Tabu. Zum ersten Mal wurde das Thema des Schwangerschaftsabbruchs und das Leiden von Frauen, die ungewollt schwanger werden, auf die Kinoleinwand gebracht. Der Film löste in der Öffentlichkeit einen Sturm aus. In den Kantonen Aargau und Schaffhausen wurde er verboten, die Schweizer Bischofskonferenz sah in dem Werk «einen Vorstoss des Bolschewismus gegen das Christentum». An der Weltpremiere in Zürich fielen angesichts der Darstellung einer Kaiserschnittgeburt allzu zartbesaitete Männer in Ohnmacht.

Den Tabubruch ins Rollen gebracht hatte auch Filmproduzent Lazar Wechsler, der mit seiner Praesens-Film AG mit Sitz in Zürich «Frauennot – Frauenglück» produziert hatte. Lazar Wechsler, der während des Ersten Weltkriegs aus dem damals russischen Polen in die Schweiz eingewandert war, gründete die Praesens-Film 1924 zusammen mit dem Schweizer Flugpionier Walter Mittelholzer. Zunächst widmete sich die Firma der Herstellung und dem Vertrieb von Reklamefilmen, etwa für die Modehäuser Bally und Grieder. In den folgenden Jahrzehnten sollte das Unternehmen zum Wegbereiter und zur Kraftquelle des Schweizer Films schlechthin werden und seinen Ruf bis nach Hollywood tragen. Heute ist die Praesens-Film die älteste noch existierende Filmgesellschaft der Schweiz.

Audiovisuelles Kulturerbe

Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums widmet sich aktuell das Landesmuseum mit der Ausstellung «Close-up. Eine Schweizer Filmgeschichte» der bewegten Vergangenheit der Praesens-Film. Realisiert wurde die Schau in Partnerschaft mit der Cinémathèque suisse. Die Filme aus dem Hause Praesens machten die Leinwand zum Spiegel der Gesellschaft und der politischen Umbrüche ihrer Zeit. Heute gehören sie zum audiovisuellen Kulturerbe der Schweiz, sie sind unverzichtbare historische Quellen aus der Blütezeit des Kinos. Die Ausstellung zeichnet die Geschichte und die Meilensteine von Lazar Wechsler und der Praesens-Film nach.

Konzipiert ist sie gleichsam wie ein Filmscript, das den Besucher durch die Jahrzehnte führt, von Lazar Wechslers – eigentlich zufälligen – Ankunft in Zürich bis zur Krise in den 1950er-Jahren, welche sich mit dem Fernsehen als Massenmedium abzuzeichnen begann. Entlang des Filmproduktionsprozesses erlaubt die Ausstellung mit Objekten und Anekdoten nicht zuletzt auch einen exemplarischen Blick auf Themen, die das 20. Jahrhundert gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich geprägt haben.

Besonders vertieft fokussiert «Close-up» auf die Zeit der Geistigen Landesverteidigung und des Zweiten Weltkriegs. Wie oft in der Filmgeschichte wurden die entscheidenden innovativen und kreativen Impulse durch Verwerfungen ausgelöst. Das war auch bei der Praesens-Film nicht anders. In den 1930er- und 1940er-Jahren entstanden ihre wichtigsten und grössten Spielfilme. 1938 wurde «Füsilier Wipf» unter der Regie von Leopold Lindtberg und Hermann Haller zum Schlüsselfilm der Geistigen Landesverteidigung, 1939 folgte mit «Wachtmeister Studer» ein weiterer Grosserfolg. Der Film «Gilberte de Courgenay» machte wiederum 1941 die Hauptdarstellerin Anne-Marie Blanc zum ersten weiblichen Schweizer Filmstar. Ein Glücksfall war für die Ausstellungsmacher der Fund einer Original-Requisite, ein Pferdekostüm, das in «Gilberte de Courgenay» für eine komödiantische Szene verwendet wurde.

Mit dem sich abzeichnenden Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg änderte sich auch die Ausrichtung der Praesens-Produktionen. Die Filme verschrieben sich jetzt ganz humanistischen Botschaften und dem Image der humanitären Tradition der Schweiz. 1944 kam «Marie- Louise» in die Kinos, die Geschichte eines französischen Mädchens, das dank der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes für drei Monate von einer Schweizer Familie aufgenommen wird. «Marie-Louise» war auch international ein grosser Erfolg – und gewann 1946 als erster nicht englischsprachiger Film einen Oscar für das beste Originaldrehbuch von Richard Schweizer. Lazar Wechsler und seine Praesens-Film verkörperten damit einen Glanzpunkt des hiesigen Filmschaffens. In die Zeit von «Marie-Louise» fällt mit dem Flüchtlingsdrama «Die letzte Chance» 1945 eine weitere Grossproduktion, die international enthusiastisch gefeiert wurde. Die Schau im Landesmuseum zeigt hintergründig mit Originaldokumenten, wie die Behörden die Dreharbeiten dazu mit Auflagen und Verboten zu steuern versuchten.

Mit den «Heidi»-Filmen begann schliesslich das filmische Nachkriegszeitalter in der Schweiz. Die idyllische Bergwelt sollte einen Kontrapunkt zu den vergangenen düsteren Jahren schaffen. Auch hier setzte die Praesens mit «Heidi und Peter» 1955 einen Meilenstein mit dem ersten Farbfilm der Schweiz. Seine Premiere feierte der Film im Zürcher Cinema Rex an der Bahnhofstrasse. Lazar Wechsler war endgültig zum «Vater des Schweizer Films» avanciert.

In den folgenden Jahren allerdings stellten sich bei der Praesens-Film immer häufiger finanzielle Misserfolge ein. 1972 liess Lazar Wechsler nach dem plötzlichen Tod seiner Frau einen Teil der Geschäftsarchive zerstören. Daraufhin übernahmen die Brüder Martin und Peter Hellstern die Leitung und führten die Praesens-Film nur noch als Filmverleih weiter. Seit 2009 setzt Praesens-Film auch wieder auf Co-Produktionen. Lazar Wechsler starb 1981 mit 85 Jahren in Zürich. «Der Bund» bezeichnete ihn in einem kleinen Nachruf als den «Mann, der die ideale Schweiz entworfen» hatte.

Weitere Informationen:
«Close-up. Eine Schweizer Filmgeschichte», noch bis 21. April im
Landesmuseum Zürich

www.landesmuseum.ch

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