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Das Krematorium Nordheim befindet sich am Fusse des Käferbergs. (Bilder: Christian Saggese)

Wenn die Endlichkeit zum beruflichen Alltag gehört

Von: Stefan Müller

14. Februar 2024

Was hinter den Kulissen des Krematoriums passiert, wissen die wenigsten. Diese Kulisse öffnet sich meist erst, wenn Angehörige sterben. Ein Augenschein im Krematorium Nordheim. 

Wie eine kleine Trutzburg thront das schweizweit grösste Krematorium Nordheim am Fusse des Käferbergs. Trüber Nebelregen umhüllt den grauen, eigenwilligen Betonbau, der in den 1960er-Jahren erbaut wurde. Um sieben Uhr hat Alexandra Koller an diesem Morgen ihren Dienst angetreten. Nachdem der Reporter an der unscheinbaren Pforte geklingelt hat, geht die automatische Schiebetüre lautlos auf. Die Bestatterin lässt den Besucher ein und nimmt ihn mit durch gekühlte neonhell erleuchtete Korridore bis zum «Maschinenraum» des Krematoriums, einer grossen, rotgefliesten Halle.

Heisse, trockene Luft schlägt einem entgegen. Ein flüchtiger, süsslicher Geruch dringt in die Nase. Die sechs elektrisch betriebenen Verbrennungsöfen röhren auf Hochtouren, bedient von einem Kollegen, der im «Kommandoraum» die Bildschirme überwacht. Bis in die Abendstunden brennen die gut gefilterten Öfen durchgehend. «Wir haben viel zu tun», erklärt die Bestatterin, in schwarzer Hose, weinroter Bluse und dunkelblauem Gilet. Täglich würden bis zu vierzig Leichname eingeäschert. «In den Wintermonaten während der Grippezeit sterben am meisten Menschen», schiebt sie mit sachlicher und leiser Stimme nach. Ausserdem wollten in Zürich die meisten eine Feuerbestattung – rund 7300 Kremationen pro Jahr.


Dem Tod früh begegnet

Die 44-jährige Alexandra Koller arbeitet seit vier Jahren mit Herzblut für das Bestattungsamt der Stadt Zürich. Ein ungewöhnlicher Job für eine Familienmutter mit Sohn – in einer Welt, in der der Tod aus dem Alltag ausgeblendet und höchstens als «Der Bestatter» am Bildschirm konsumiert wird. Nicht so für Alexandra Koller: «Den Tod lernte ich früh kennen: Mit dreizehn verunglückte mein älterer Bruder bei einem Autounfall tödlich», sagt die Bestatterin. Sie trägt kurze, braune Haare und hat ernste Augen. Wenige Jahre später wurde ihr leiblicher Vater in Südamerika erschossen. Danach verübte ein weiterer Bruder Suizid. Der Tod war ebenfalls ihr ständiger Begleiter während ihrer über zwanzig Berufsjahre im Sozial- und Pflegebereich.

Die Tür von Ofen 5 öffnet sich wie von Geisterhand und gibt den Blick frei in die glühende Ofenkammer. Der Kollege vom Ofenteam hat bereits den nächsten Sarg vom Sargwägeli auf die Einfahrschienen vor dem Ofen geschoben. Und der Sarg «schwebt» nun in den Ofen, erste Flammen züngeln daran hoch, und das Tor schliesst lautlos.

Alexandra Koller

Schweisstreibender Dienst

In rund drei bis vier Stunden hat sich ein Leichnam bei über tausend Grad zu Knochenasche verwandelt. Von einem stattlichen Körper bleiben ein paar wenige Kilo grobklumpige Asche übrig, die im unteren Teil des zweistöckigen Ofenraumes anfallen.

Alexandra Koller hat heute hier unten ihren Dienst, bei schweisstreibender Wärme. Ausgerüstet mit
einem Metallschieber – ähnlich eines Brotschiebers beim Bäcker – steht sie nun vor dem Ofen, jetzt in praktischer Cargohose. Mit dem Schieber zieht sie die bröcklige Asche zum Ausglühen an den Ofenrand. Schon fängt oben der nächste Sarg Feuer. Auf diese Weise lassen sich ohne Unterbruch bis zu drei Leichname gleichzeitig einäschern. «Es darf keine Vermischung geben», betont die Bestatterin. Das Worst-Case-Szenario in einem Krematorium.

Alle paar Wochen schiebt Alexandra Koller Ofendienst, eine strenge, bis zu dreizehnstündige Arbeit.

Kein Fachkräftemangel

Die vierzig Bestatterinnen und Bestatter des Bestattungsamtes, die Hälfte davon Frauen, decken wechselweise alle Dienste ab von Ofendienst, Aufbahrung, Bestattung, Fahrdienst bis zur Angehörigenberatung. «Die psychische Belastung wird dank der Abwechslung verringert», sagt Michael Müller, Bereichsleiter BFA des Bestattungsamtes der Stadt Zürich. «Wir haben zurzeit auch wenige Personalabgänge.»

Fachkräftemangel kennt die Branche nicht. «Wir haben regelmässig eine gute Auswahl an Bewerbenden, meistens Quereinsteiger», so Michael Müller. Herausfordernd sei, die geeignete Person darunter zu finden. Das Fachwissen eignen sich jedoch alle erst nach Stellenantritt an. Den eidgenössischen Abschluss kann man nach drei Jahren Vollzeit-Berufserfahrung erlangen.

Mittlerweile ist die Knochenasche ausgekühlt. Die Bestatterin schüttet mit routinierten Handgriffen die Asche in die Blechkiste unter der Ofenklappe. An einem Arbeitsplatz gegenüber dem Ofen geht die Verarbeitung weiter. Die Bestatterin muss mit einem Magnetstab Metallrückstände aus der Asche sortieren. Sie findet vorwiegend Sargnägel, gelegentlich gibts auch Ausgefalleneres: etwa künstliche Hüft- oder Kniegelenke, nicht verbrannte Grabbeigaben wie Uhren, Brillen oder Schmuck aus Stein.

Vielseitige Tätigkeit

Alexandra Koller liebt ihren Beruf als Bestatterin: «Er ist sehr vielseitig und erfüllend», findet sie. Sie kremiert nicht nur, sondern holt die Verstorbenen ab: im Heim, im Spital oder zu Hause. Sie bettet sie in einen Sarg, ebenso bei Kremationen. Sie pflegt, frisiert den Leichnam, versorgt Wunden und kleidet ihn ein. «Meist in Privatkleider, vor allem bei Kindern und jungen Menschen», fügt sie hinzu.

Die Bestatterin bahrt die Verstorbenen auf, wenn sich die Angehörigen verabschieden wollen – in den sakralen Aufbahrungsräumen des Krematoriums, die die Angehörigen frei gestalten dürfen. «Was manchmal sehr berührend ist», sagt Alexandra Koller.

Gefallen findet Alexandra Koller ebenfalls an den verschiedenen Bräuchen und Riten der Bestattungen, zum Beispiel tamilisch-indische: «Das sind mehrstündige Spektakel, mit Klageweibern und Räucher­stäbli», kommt die Bestatterin ins Schwärmen, die sich selbst als Freigeist bezeichnet. Die religionsneutrale Kapelle mit über 400 Plätzen sei manchmal sogar zu klein.

Zu den Tätigkeiten der Bestatterin gehören neben der Angehörigenberatung ebenso die Beschriftung der Grabkreuze oder Beschaffung von Blumenkränzen. An den Friedhofsbestattungen nimmt die Bestatterin nur noch selten teil. Meist macht dies der Friedhofsgärtner oder die Friedhofsgärtnerin.
«Es gibt traurige, aber auch schöne Momente», sagt Alexandra Koller. So würden sich manche Angehörige lange nach der Bestattung nochmals bei ihr melden, um sich zu bedanken. Oder skurrile Momente: Einmal musste sie und ihre Kollegin eine Verstorbene in einem Heim abholen. Sie marschierten mit dem leeren Sarg vor das Zimmer der Verstorbenen. In der Nähe sass ein alter Mann – plötzlich sagte dieser zur Bestatterin: «Nehmt mich doch bitte mit in eurem Sarg.» Ein paar Tage später tauchte der Mann tatsächlich im Krematorium auf, verstorben im Sarg.

Gemahlen und abgefüllt

Alexandra Koller schiebt die gesäuberte Aschekiste in die Mahlmaschine. Die Maschine rattert ein paar Minuten. Danach füllt die Bestatterin die fein gemahlene Asche sorgfältig in die Urne, Staub wirbelt auf. Zuletzt kommt der Deckel auf die Urne, mit Leim festgeklebt.

Kurz vor Mittag steuert die Bestatterin das Sargwägeli mit den gefüllten Urnen in den Logistikraum. Eine Kollegin verpackt dort die Urnen, die später zur Post gehen, auf die Friedhöfe verteilt oder von Angehörigen abgeholt werden. Manchmal bringt Alexandra Koller die Urne persönlich den Angehörigen nach Hause – ein Gratisdienst der Stadt Zürich. «Das mache ich gerne und rundet meine Arbeit ab», freut sie sich.

Jetzt trifft sie zum Mittagessen mit Teamkolleginnen und -kollegen im gemütlichen und warmen Pausenraum ein, mit Blick auf eine grosse Terrasse mit Grill und weitläufigem Grün dahinter. Währenddessen wendet sich der Reporter wieder dem Ausgang zu. Die automatische Schiebetür öffnet sich lautlos. Nachdenklich verlässt der Besucher das Krematorium, hinaus in den trüben Tag – dem Tod noch einmal entronnen.

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