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Porträt

Peter Müller, Piercing-Pionier: "Nur Bauchnabel zu piercen, das wurde irgendwann einfach langweilig." Bild: JS

Er öffnete den Zürchern mit der Piercingzange die Welt

Von: Jan Strobel

08. Juli 2014

Vor zwanzig Jahren eroberten Piercings die Zürcher im Sturm. Zu den ersten Piercern der Stadt gehörte damals Peter Müller. Der 55-Jährige blickt zurück auf die Anfänge eines Hypes.

Peter Müller (55) streicht sich eine Haarsträhne zurück, steckt sich eine Zigarette an und wirft dem blauen Rauch eine Frage hinterher: «Wo ist in dieser Stadt eigentlich der Rock ’n’ Roll geblieben?» Es schwingt da etwas Enttäuschung mit. Müller findet, Zürich sei wieder bieder geworden, konform, «die Leute», sagt er, «sehen heute alle gleich aus, sie lassen sich irgendein Bling-Bling-Piercing stechen, wollen aber auf keinen Fall zu sehr aus der Reihe tanzen. Wo ist da die Entwicklung geblieben. Wir leben doch im 21. Jahrhundert.» Aus Müller spricht der Pionier, der weiss, dass er gegen die Geschwindigkeit des Zeitgeists nicht ankommen kann, den er selbst einst in die Stadt brachte. Und der Zeitgeist macht schliesslich alles in rasender Geschwindigkeit konven­tionell.

1993 hatte der Modedesigner Jean-Paul Gaultier gepiercte Models über den Laufsteg geschickt. Die Band Aerosmith schmückte im selben Jahr das Cover ihrer Single «Cryin’» mit einem Piercing. Und dank Leuten wie Müller lernten auch die Zürcher diese «trendige Gewaltanwendung» kennen. Im Mai 1994 berichtete die «Schweizer Woche»: «Von London und Amsterdam schwappt ein Trend zu uns über, der vor allem Teens und Twens besticht.» Und diese Twens schwärmten «vom metallischen Klacken beim Küssen mit einem silbernen Metallstift aus Edelstahl in der Zunge.» Noch belächelte die Zürcher Presse diese Kids, die aussähen «wie Christbäume im Endstadium».

Das Accessoire der Techno-Kids
Genau zu dieser Zeit richtete Müller, eigentlich Coiffeur, in seinem kleinen Salon im Kreis 5 sein erstes Piercingstudio ein. Er hatte die Kunst des Piercens zuerst bereits Mitte der 80er in der Nische der Schwulenszene kennen gelernt. In San Francisco schmückten sich die Männer mit Nasen- und Brustwarzenpiercings, für Müller öffnete sich «eine neue Welt», wie er es ausdrückt. Es war ein ­eigentliches Statement, der Code des Untergrunds. «Da entwickelte sich etwas ganz Grosses.» Gleichzeitig begann die Techno-Ära, die Müller heute als kurze, aber heftige Blütezeit beschreibt. Seine ersten Piercings musste er sich noch im englischen Brighton besorgen. Auf dem Kontinent gab es sie schlicht nicht zu kaufen. Um sich zu professionalisieren, bildete sich Müller bei der deutschen «Piercing Queen» Suzie Q. im baden-württembergischen Esslingen aus. Noch liess sich ein eher überschaubarer Kreis auf dieses körperliche Abenteuer ein. Doch dann kam Jean-Paul Gaultier und mit ihm der Startschuss für das Massenphänomen.

In Zürich avancierte das Piercing rasch zum Accessoire der Techno-Kids. 1994 ging die Street-Parade erst in ihre dritte Runde, wer zum Beispiel ein Ringlein im Bauchnabel trug, fiel damals richtig auf. Mit der Massenfasnacht von heute hatte das noch nichts zu tun. In Müllers Salon nahm der Dominoeffekt eines Trends seinen Lauf, der sich bis heute hält. Das haben eigentlich nur noch das Tattoo, die Jeans oder das Bikini in vergleichbarer Kontinuität geschafft. Plötzlich standen die bisher eher braven Twens in seinem Studio. «Die Mädchen wollten sich von Beginn weg meistens den Bauchnabel piercen lassen, die Jungs schwörten eher auf Ohrenschmuck, Nasen- oder Brustwarzenpiercings.» Müllers Geschäft mit dem Stechen florierte. «Mitte der 90er konntest du mit dem Piercen richtig viel Geld verdienen.» Seinen Coiffeursalon inklusive Piercingstudio brachte er nun an der Zweierstrasse im Kreis 4 in einem ­geräumigeren Lokal unter. Er ­nannte es, passend zum Zürcher Run auf den Körperschmuck, «Jungle Body Cult».

Mit den Jahren sprangen immer mehr auf Müllers Zug auf. Es wurden immer neue Piercingstudios eröffnet, und spätestens als 1996 darüber spekuliert wurde, ob TV-Lady Gabriela Amgarten wohl ebenfalls ein Piercing trage, signalisierte das eigentlich bereits den Anfang vom Ende der untergründigen Exklusivität. Gestresste Marketingstrategen brüteten vor jeder Street-Parade angestrengt über ihren Kommerz­kampagnen. Müller  musste sich von diesem Trash abheben. «Nur Bauchnabel zu piercen, das wurde ­irgendwann einfach langweilig», sagt Müller.

Aber schliesslich werden auch seine Kunden älter, und mit dem Alter ändern sich die Wünsche. «Heute kommen Herr und Frau Meier aus Albisrieden zu mir und verlangen ein Intimpiercing. Das hat immer noch etwas sehr Exklusives.» Allgemein, findet Müller, habe das Piercen aber nachgelassen. «Wenn heute die Mutter oder der Vater ein Piercing tragen, ist das für die Kinder natürlich nicht besonders cool, gerade wenn sie sich von ihnen abheben wollen.» Es bleibt die Sehnsucht des Pioniers nach dem Rock ’n’ Roll oder nach einem neuen Ruck, wie ihn der Techno ausgelöst hatte. Müller orakelt: «Ich denke, in zehn Jahren könnte es wieder so weit sein.» 

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