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Porträt

Flughafenpfarrer Walter Meier: "Jemand, der zuhört, das ist ganz wichtig."Bild: Nicolas Y. Aebi

Kerzenlicht und Stille im Terminal 1

Von: Ginger Hebel

22. Dezember 2014

Seit 18 Jahren hält Flughafenpfarrer Walter Meier im kleinen Andachtsraum seine Predigten. Er kümmert sich um die Flughafenmitarbeiter, spendet Angehörigen von Absturzopfern Trost und hat ein offenes Ohr für Reisende, Gestrandete und Obdachlose. Seine berührenden Erlebnisse hat er in einem Buch zusammengefasst.

Stille. Leise Musik. Walter Meier liest aus dem Lukas-Evangelium und zündet im kleinen Andachtsraum die vierte Kerze am Adventskranz an. Ein Flugzeug donnert über die Kapelle hinweg, doch niemand stört sich daran, alle beten still. Jeden Mittwoch über Mittag halten der reformierte Flughafenpfarrer oder eine seiner Kolleginnen eine kleine Andacht. Walter Meier spricht Mundart, manchmal auch Hochdeutsch, oder er übersetzt einzelne Bibeltexte in andere Sprachen. Jeder ist willkommen in seinem kleinen, stillen Reich inmitten des hektischen Flughafenbetriebs. Die Kapelle befindet sich etwas versteckt im Terminal 1, auf der Galerie im 2. Stock. Mit der Eröffnung des neuen Terminals 2 im Jahr 2016 wird das Pfarramt einen neuen Standort beziehen, direkt neben dem Zugang zur Zuschauerterrasse. «Darauf freuen wir uns schon heute. Wir hoffen, dass dank der besseren Lage mehr Leute spontan zu uns kommen werden», sagt Walter Meier.

Seit 18 Jahren arbeitet der 62-Jährige vollamtlich als Flughafenseelsorger. Er betreut mit seinem Team 25 000 Flughafenmitarbeiter, aber auch gestrandete Passagiere und Angehörige von Absturzopfern. Immer wieder wird er mit traurigen Schicksalen konfrontiert, und er fühlt sich dazu berufen, Menschen beizustehen, die schwere Zeiten durchmachen. 1997, als das Flughafenpfarramt erst wenige Monate existierte, geschah das Massaker von Luxor. Walter Meier erinnert sich an diesen schrecklichen Tag, als wäre er gestern gewesen. «Das war ein schwerer Anfang für mich als Flughafenpfarrer. Damals rauchte ich noch, vor lauter Nervosität so viel, dass die Aschen­becher überquollen.» In den vergangenen Jahren betreute er zusammen mit Careteams viele Angehörige von Absturz­opfern. Die Flugzeugunglücke in Halifax, Nassenwil und Bassersdorf geschahen alle während seiner Amtszeit. Doch wie begegnet man Menschen, die das Liebste verloren haben? Kann man sie trösten und ihren Schmerz lindern? «Die Reaktionen von traumatisierten Menschen sind so unterschiedlich, wie die Menschen verschieden sind», weiss Walter Meier. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten froh sind, wenn jemand in der Nähe ist, selbst wenn es ein Fremder ist. «Jemand, der zuhört, das ist ganz wichtig.»

Auch Rituale können helfen. So verspüren viele Angehörige den Wunsch, an die Absturzstelle zu reisen, um Blumen und Teddys niederzulegen. Dann zündet er für die Trauernden eine Kerze an und betet mit denen, die mögen. «Bei allem Traurigen möchte man oft das Schöne nicht sehen», sagt Walter Meier. Als er nach dem Swissair-Unglück im kanadischen Halifax nach Peggis Cove fuhr, schien die Sonne, an den Imbissbuden hingen Kondolenzschreiben. «Man spürte, dass die Bewohner die Angehörigen der Opfer in ihre Gebete einschlossen.» Auch wird er den Moment nie vergessen, als ihn nach dem Flugzeugunglück von Bassersdorf die Schwester eines Opfers fragte, ob sie an der Absturzstelle einen Gospelsong singen dürfe. «Sie sang so schön, dass alle weinten, auch ich, denn ich bin nah am Wasser gebaut.» Doch wie bringt er die Bilder wieder aus dem Kopf? «Wir haben hier am Flughafen ein gutes Team. Wir reden miteinander, verarbeiten es gemeinsam, das ist wichtig, damit man nicht eines Tages kraftlos ist.» Auch helfen ihm sein Glaube und sein Urvertrauen, mit schwierigen Situationen umzugehen.

Als Seelsorger muss er auch zu sich selber Sorge tragen. Kraft tankt er im Kreise seiner Familie. «Ich bin glücklich, wenn ich Zeit mit meinen Enkeln verbringen darf.» Und er freut sich, wenn sein Sohn ihm den Hund in die Ferien bringt, «der ist auch wie Enkel», sagt er und lächelt. Das Jahr 2014 neigt sich dem Ende zu. Für den Flughafenpfarrer war es ein gutes Jahr; ohne verheerendes Unglück, das den Flughafen Zürich tangierte. Doch den Tod einer jungen Frau, die am Flughafen die Lehre machte und beim Postauto­drama von Lengnau ihr Leben verlor, wird er nicht so schnell vergessen können. Tagelang glich der Andachtsraum einem Kerzenmeer. «Ich denke, das war das schlimmste Ereignis, auch, weil es noch frisch ist.» Wenn das Schicksal unerbittlich zuschlägt, fehlen auch einem Pfarrer wie ihm die Worte.

Über den Wolken und in der Kirche

Als Kind wollte Walter Meier nie Pilot werden wie viele Buben, aber fasziniert haben ihn die grossen Vögel schon immer. Er wuchs in Winkel nahe dem Flughafen auf, zu einer Zeit, als erst wenige Sicherheitsvorkehrungen existierten. Um das Flughafenareal verlief lediglich ein Maschendrahtzaun. Die Wiesen zwischen den Rollwegen und Pisten wurden an Bauern verpachtet, auch Walter Meiers Götti besass ein Stück Ackerland. Er sieht sich noch heute zwischen den Rollwegen sitzen und Kartoffeln zusammenlesen, während eine Super Constellation über seinen Kopf fliegt. «Das war toll, aber ich dachte immer, da sitzt du niemals drin. Fliegen war etwas Gediegenes. Wir konnten uns das nicht leisten.»

In den Siebzigern, während seines Studiums der evangelischen Theologie, wurde er auf ein Inserat der Swissair aufmerksam. Gesucht wurden dringend Stewards. Er bewarb sich – mit Erfolg. Seine damals langen Haare und den wilden Bart musste er dafür opfern. «Damals galten bei der Swissair strengere Vorschriften als im Militär», erzählt er. Er hat es in Kauf genommen, denn er war stolz, die Swissair-Uniform in die Welt hinauszutragen. Sein erster Flug brachte ihn nach New York. «Ich, der Bub vom Land, in der grossen Stadt – ein unbeschreibliches Gefühl.» 25 Jahre war er als Flight Attendant dem Himmel nah. Dazwischen amtete er als Gemeindepfarrer in Gossau, Dietlikon und Bülach, und war ab 1988 Teilzeit-Seelsorger für das fliegende Personal der Swissair. Damals erzählten ihm die Angestellten von ihren Beziehungsproblemen, heute, wo Fliegen billig geworden ist und die Fluggesellschaften beim Personal Kosten sparen, stehen viele unter Stress und Druck. «Die Gesprächsthemen haben sich verändert. Heute sind es die strengen Flugeinsätze und die wenigen Erholungsphasen, die das Personal belasten.»

Er kennt den Flughafen in- und auswendig, und auch manche von denen, die immer oder zeitweise hier leben: die Obdachlosen. Er nimmt sich gern Zeit für einen Schwatz und verteilt ihnen Essensgutscheine. Zudem hat er sie eingeladen, heute Abend an der Weihnachtsfeier in der reformierten Kirche von Kloten teilzunehmen, mit Gratisessen und -trinken und anschliessendem Gottesdienst. Allein sein muss an Heiligabend niemand.

Das Fest der Liebe wird Walter Meier mit der Familie feiern, mit seiner Mutter, seiner Frau, den beiden Söhnen und den drei Enkeln. Er wird aufpassen, dass die Kleinen nicht in die brennenden Kerzen fassen und die Kugeln vom Baum reissen. Sie werden zusammen Lieder singen und Walter Meier wird die Weihnachtsgeschichte vorlesen, wie jedes Jahr. «Weihnachten ist für mich ein schönes Fest, auch wenn es als Pfarrer mit zusätzlicher Arbeit verbunden ist.» In der Flughafenkapelle findet auch heute ein kleiner Mittagsgottesdienst statt. Pfarrer Meier weiss, dass viele Leute nur an Weihnachten in die Kirche gehen, doch das stört ihn nicht. «Mir sind die Leute willkommen, wann immer sie kommen. Der liebe Gott hat uns nicht nötig. Wir haben ihn nötig.»

«Flughafengeschichten» von Walter Meier, 127 Seiten, Jordan-Verlag, erhältlich im Buchhandel für 27 Franken.
(ISBN 978-3-906561-53-0)

 

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