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Reportage

Coiffeuse und "Baberlady" Tina Flohr schneidet dem Bedürftigen Peter gratis die Haare. Sie ist Mitglied bei "Barber Angels Brotherhood Schweiz." Bild: Jean-Paul Assandri

Ein neuer Haarschnitt für ein Stück Menschenwürde

Von: Ginger Hebel

23. Januar 2024

Peter sitzt mit hängenden Schultern und leerem Blick auf dem Stuhl und lässt sich von Profi Tina Flohr die Haare schneiden. Er wünscht sich eine «coole Rocker-Frise». Der Zürcher kann sich keinen professionellen Haarschnitt leisten. Es gibt wenige Menschen, die sich dafür interessieren, wie es ihm geht und was er will. Niemanden, der ihn zur Aufmunterung zärtlich umarmt oder ihm ein herzliches Lächeln schenkt. Stattdessen ist er in seinem Leben oft mit Ablehnung konfrontiert.

Tina Flohr hat keine Berührungsängste. Sie ist einfühlsam, aufmunternd. Sie mag die Menschen, egal, wer sie sind und woher sie kommen. Die 39-Jährige hat sich in den letzten 20 Jahren als Coiffeuse und Barbiere einen Namen gemacht, ist in den Kreisen als «Barberlady» bekannt. Sie arbeitet in einem 80-Prozent-Pensum in der Stadt Zürich und engagiert sich ehrenamtlich als Präsidentin der «Barber Angels Brotherhood Schweiz». Ein Verein, den sie mit ihren Kollegen, den leidenschaftlichen Freiwilligen Melanie Scherer, Susanne Hänni, Lilli von Mathe und Jean-Paul Assandri gegründet hat. Sie arbeiten eng mit sozialen Institutionen, Kirchen und der Stiftung Pfarrer Sieber zusammen. Regelmässig bauen sie im Coffee&Deeds in Zürich-Hirzenbach ihren mobilen Coiffeur-Salon auf. Das Aktivitäten-Café wird ebenfalls hauptsächlich von Freiwilligen geleitet.

Die Coiffeure installieren sich mit Waschhaube, Trockenshampoo, Rasierer, Schere, Kamm und Haarföhn. «Hygiene ist das A und O. Wir desinfizieren alles», betont Tina Flohr.

Kleine Erfolgsgeschichten

Die «Barber Angels» schneiden Obdachlosen, Armutsbetroffenen und Menschen am Rande der Gesellschaft kostenlos die Haare. Tina Flohr geht bewusst auf die Wünsche der Leute ein, sie möchte, dass sie sich wohlfühlen und sich fallen lassen können. Sie hört ihnen zu, lässt sie erzählen von ihrem Leben, ihren Abstürzen, Ängsten und Hoffnungen. Die kleinen Erfolgsgeschichten sind es, die sie berühren. Wenn ihr Menschen erzählen, dass sie dank neuem Haarschnitt den Mut fassten, sich für einen Job zu bewerben oder eine Wohnung zu suchen. «Manche schaffen es tatsächlich, weil letztlich der Wille siegt.»

 

Tina Flohr will für diese sozialen Einsätze kein Geld. «Das Einzige, was ich will, ist, Bedürftigen ein Stück Selbstwert und Würde zurückgeben.» Es sind oft Menschen, die vergessen haben, welche Träume und Ziele sie einst hatten. Die den Blick in den Spiegel meiden, aus Scham und Frust. «Es sind gebrochene Menschen», sagt Tina Flohr. Schon immer hat sie sich für das Wohl anderer mit Haut und Haar eingesetzt. Sie möchte die Augen vor der Realität nicht verschliessen und tatenlos zusehen, sondern aktiv etwas zur Verbesserung beitragen.

Grosser Andrang

Die Initiative zur Gründung der «Barber Angels Brotherhood» ging 2016 vom deutschen Friseurmeister Claus Niedermaier aus. Bald waren mehrere ausgebildete Haarprofis mit an Bord, so auch Tina Flohr. Der allererste Einsatz in der Bahnhofsmission in München sei chaotisch und anstrengend gewesen, von Gewalt geprägt. «Niemand konnte verstehen, dass wir Bedürftigen gratis die Haare schneiden und etwas Gutes tun wollten.» Doch sie kämpften für ihre Überzeugung. Mittlerweile sind die «Barber Angels» mit über 600 Mitgliedern weltweit im Einsatz, sehr oft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Da die meisten Haarprofis unter der Woche ihrer bezahlten Arbeit nachgehen, finden die ehrenamtlichen Einsätze fast immer sonntags statt. Oft werden sie regelrecht überrannt, so auch vergangenes Wochenende. Obdachlose, alleinerziehende Mütter ohne Job, mit wenig Geld und grossen Zukunftsängsten, und Leute, die in Altersarmut leben, profitieren vom kostenlosen Angebot.

Auch Lisa aus Hirzenbach ist gekommen. Sie trennt sich von ihrer langen Mähne. Diana Möbius schneidet ihr einen modischen Bob. Lisa strahlt vor Freude. «Es fühlt sich so gut an, viel leichter.» Sie ist dankbar für dieses Angebot, denn die IV-Rente sei knapp, das Leben teuer. «Meine Haare wachsen schnell. Aber einen Coiffeurbesuch kann ich mir schlicht nicht leisten.» Auch ihre Bekannte aus dem Quartier, Johany, nutzt das Angebot. Sie ist alleinerziehend, lebt von Sozialhilfe und hält sich mit Putz-Jobs über Wasser. Sie ist froh, dass man ihr kostenlos die Haare schneidet. Besonders freut es sie für ihre Buben, die von coolen Frisuren und Mustern wie Blitzen in den Haaren träumen. Wünsche, die ihr Mami nicht bezahlen kann.

Die «Barber Angels» finanzieren sich durch Sponsoren, Materialspenden und Mitgliederbeiträge (15 Franken Monatsbeitrag, 180 Franken pro Jahr für den Clubbeitrag). Alle Mitglieder erhalten einen eigenen Namen (Barberlady, Curlysue) und die unverkennbare schwarze Kleidung im Rockerstil. «Wir tragen alle die gleiche Kluft. So bricht das Eis schneller und die Hemmschwelle sinkt», sagt Tina Flohr. Auch Melanie Scherer arbeitet seit Jahren ehrenamtlich für die «Barber Angels» sowie als Angestellte in einem Zürcher Coiffeursalon. Derzeit ist sie hochschwanger und muss bei Einsätzen passen. Sie lässt es sich aber nicht nehmen, ihre «Barber-Familie» mental zu unterstützen. Sie verteilt Geschenke aus Spenden an die Bedürftigen, Teddys für die Kinder und warme Jacken für kalte Nächte auf der Strasse. «Ich habe eine grosse Leidenschaft für meinen Beruf als Coiffeuse. Wenn ich Armutsbetroffenen die Haare schneide und sehe, wie sie lächeln und für den Moment wieder glücklich sind, dann geht mir das Herz auf. Das ist der schönste Lohn.»

Die «Barber Angels» sind auf Freiwillige und Sponsoren angewiesen und hoffen, dass sich auch während Melanie Scherers Babypause Ersatz findet, der bereit ist, die Schere zu schwingen für den guten Zweck. Sie wollen nicht nur in Zürich, sondern dieses Jahr auch in Bern, Basel und Genf durchstarten. Coiffeure und Menschen, die organisieren und mithelfen, sind sehr erwünscht. Peter ist fertig frisiert. Tina Flohr hält ihm den Spiegel hin, er strahlt und kann nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. «Gut siehst aus», sagen die anderen im Raum. Tina Flohr nimmt den nächsten Gast in Empfang. «Ich bin dankbar. Ich habe ein Dach über dem Kopf, mein Kühlschrank ist voll. Ich kann arbeiten, bin gesund. Ich kann mir ein Leben ohne Ehrenamt nicht mehr vorstellen. Es käme mir sinnlos vor.»

Weitere Informationen: Barber Angels Brotherhood Schweiz schneiden Bedürftigen regelmässig gratis die Haare. Wer sich freiwillig engagieren will, kann sich über die Homepage melden. Immer wieder sind die Barber Angels im Coffee&Deeds in Zürich zu Gast. Am 5. Mai beim Love Ride auf dem Flugplatz Dübendorf. www.barberangelsbrotherhood.ch

 

 

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