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Gut zu wissen

Roger Reiss im Matrosenanzug, 1949. Bild: Privat

"Ich träumte von Hollywood"

Von: Jan Strobel

14. September 2017

Immer wieder schildert der Autor Roger Reiss in seinen Büchern eine Kindheit im jüdischen Zürich der 50er- und 60er-Jahre. Jetzt ist sein neuster Titel, «Schmatissimo», erschienen.

«Was gehört zur Heimat?», fragte Max Frisch in seiner berühmten Rede zur «Schweiz als Heimat». Für den aus Zürich stammenden Autor Roger Reiss, der heute in Genf lebt, ist Heimat immer auch sein Quartier aus der Kindheit – das «Zürcher Stetl», wie er es nennt –, die jüdische Gemeinschaft in Aussersihl und in der Enge. Immer wieder kehrte er in seinen Büchern in diesen kleinen Kosmos zurück – etwa in «Fischel und Chaye» oder in «Leon und Lucie», in denen er seine Zürcher Familiengeschichte erzählt.

Nun legt der 72-Jährige ehemalige Banker sein fünftes Buch mit dem verspielten Titel «Schmatissimo» vor. Das Wort ist gewissermassen die Steigerungsform des jiddischen Ausdrucks «Schmates», der mit «alte Kleiderfetzen» übersetzt werden könnte. Reiss bringt hier wieder Lebenserzählungen an den Leser in Form von   amüsanten, zärtlichen aber mitunter auch traurigen Anekdoten aus «Erinnertem und Erhofftem, Erdachtem und Wirklichkeit».

Eine besonders anrührende Geschichte erzählt Reiss gleich zu Beginn des Buchs: An seinem fünften Geburtstag kaufte ihm seine Mutter beim edlen Modeherrengeschäft Fein-Kaller an der Bahnhofstrasse einen marineblauen Matrosenanzug und eine schmucke Baskenmütze. «Dieses Outfit war verlockend, ich träumte von Hollywood», schreibt Reiss. Sein Geburtstag fiel auf einen Schabbat, doch für den Buben war es trotzdem ein obligatorischer Schultag.

In seinem festlichen Matrosenanzug fiel der kleine Roger auf dem Pausenplatz des Schanzengrabens natürlich auf. Eine Gruppe von Knaben begann, ihn anzupöbeln. Die Baskenmütze wurde zu ihrem Spielball, sie war irgendwann nur noch ein Stofflumpen. Der Schulabwart warf sie schliesslich in den Ochsner-Kübel.

«Wir passten  nicht in den Rahmen», schreibt Reiss. Der Vater erwirkte schliesslich einen Schabbat-Dispens für seinen Sohn – und das Outfit wurde künftig massentauglich bei der EPA eingekauft. «Mein Matrosenkleid endete mit meinem schmollenden Lächeln auf Mutters Nachttisch, eingerahmt in einem silbernen Bilderrahmen.»

Roger Reiss: Schmatissimo. Lebenserzählungen. CS Publishing. Das Buch ist erhältlich in der Buchhandlung im Volkshaus, Stauffacherstrasse 60, 8004 Zürich. 29.50 Franken.

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