Gut zu wissen

«Herr Bollag, es wird nicht so heiss gegessen wie gekocht!» Bild: Amy Bollag
"Mein Kampf" ist kein Kochbuch
Von: Amy Bollag
Zeitskizzen: Amy Bollag (92) erinnert sich an einen Besuch aus Deutschland und an die unheimlich prophetischen Worte seines Vaters, die dabei fielen.
1935: Emanuel Kreilsheimer lebte damals mit seiner alten Mutter im deutschen Freiburg. Dort führte er jahrzehntelang einen kleinen Optikerladen. Er berichtete bei einem Besuch bei uns in der Schweiz, wie er durch die Propaganda und gewaltige Hetze der Nazis enorme Schwierigkeiten hätte. Sogar seine alten Kunden hätten Angst, seinen Laden zu betreten.
Mein Vater erzählte ihm, dass er Hitlers Machwerk «Mein Kampf» gelesen hätte. Er versuchte nun, unserem Besucher verständlich zu machen, dass der Mann, der dieses Buch geschrieben hätte, im Moment der grösste und mächtigste Potentat in Deutschland wäre. Er hätte eine grössere Machtfülle, als jeder andere Staatspräsident oder Herrscher in Europa. Vater versuchte Kreilsheimer mit aller Eindringlichkeit klarzumachen, dass dieser Diktator alles, was er geschrieben und prophezeit habe, mit aller Konsequenz rücksichtslos ausführen werde. Vater riet ihm, so schnell wie möglich alles aufzulösen und Deutschland, so lange es noch möglich sei, zu verlassen.
Ich war erschrocken und perplex zu hören, wie ihn Vater eindrücklich warnte, dass Hitler alle Juden, die sich in seiner Gewalt befänden, umbringen würde. Noch heute wundere ich mich über die prophetischen Worte meines Vaters. Der Grund für sein klares Wissen war aber nur durch das Studium von Hitlers Buch «Mein Kampf» erklärbar.
Viel mehr wie alles Gehörte ist mir die Antwort von Emanuel Kreilsheimer im Gedächtnis haften geblieben: «Herr Bollag, es wird doch nicht so heiss gegessen wie gekocht!» Er glaubte leider noch bis zuletzt an dieses Rezept. 1937 kam er zum letzten Mal zu Besuch. Dann hörten wir nie mehr etwas von ihm.
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