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Gut zu wissen

Der Tonhallekrawall vom März 1871 verlagerte sich zur Strafanstalt Oetenbach. Heute befindet sich hier das Parkhaus Urania. In den Scharmützeln verlor ein Deutscher sein Leben. Bild: Baugeschichtliches Archiv

Tonhallekrawall und "Deutschenhass"

Von: Daniel Rickenbacher

26. November 2013

Teil 2 unserer Serie "Zürich, zwischen Krieg, Terror und Revolution"

Der deutsch-französische Krieg änderte das Gesicht Europas. Das Kaiserreich Deutschland, das im Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles in einer für die Franzosen demütigenden Geste gegründet wurde, stieg zur führenden Macht Europas auf.

Die Schweizer nahmen starken Anteil am Geschehen auf den Schlachtfeldern. Anfang des Krieges waren sie noch den Deutschen unter Führung Preussens zugeneigt, dem Kaiser Napoleon III., mehr Abenteurer denn Staatsmann, in grober Vermessung der Lage einer diplomatischen Lappalie wegen den Krieg erklärt hatte. In der Schlacht von Sedan fiel die Entscheidung: Die Franzosen kapitulierten und Kaiser Napoleon III. ging in Gefangenschaft. Den Schweizern konnte die Abstrafung eines Monarchen, der seine Nase in den Augen vieler ein wenig zu hoch trug, nur recht sein.

Doch nicht alle gaben sich mit der Niederlage zufrieden: Auf den Trümmern der Monarchie erhob sich die neue französische Republik, die den Krieg gegen die Deutschen fortsetzte. Aufgrund der gemeinsamen Staatsform fühlte sich die Schweiz diesem wieder auferstandenen Frankreich verbunden und anerkannte die neue Regierung als zweiter Staat – nach den USA – weltweit. Doch das Blatt liess sich nicht mehr wenden: Frankreich schloss Ende Februar Frieden und besiegelte den deutschen Triumph.

Nicht wenige Schweizer fühlten sich durch das neu entstandene mächtige Deutsche Kaiserreich bedroht. Dieses Gefühl und die verbreiteten Vorbehalte gegenüber den Deutschen, die gerade in Zürich in Wirtschaft und Bildung eine bedeutende Stellung einnahmen, entlud sich in den schweren Ausschreitungen vom 9. bis 11. März 1871, dem Tonhallekrawall.

Die Siegesfeier in der Tonhalle
Das Deutsche Kaiserreich war noch keine zwei Wochen alt, da rief ein prominent besetztes Komitee am 31. Januar 1871 zu einer Siegesfeier in der Tonhalle: „Die neueste, entscheidende Wendung im deutsch-französischen Kriege hat bei den Unterzeichneten den Gedanken angeregt, die staatliche Neugestaltung Deutschlands durch einen Abendkommers zu feiern. Zu Festen ist die Zeit nicht angetan; in anspruchsloser Form wollen wir den grossen Moment im Kreise gleichgesinnter begehen. Wir laden demnach alle hier lebenden Deutschen, die mit uns in der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches ein freudiges Ereignis erblicken, sowie alle Schweizer, die Freunde der deutschen Sache sind, höflichst und dringend ein, an dem Abendkommers im grossen Saale der Tonhalle, Donnerstag den 2. Februar, teilzunehmen.“

Signiert war der Brief unter anderem von Gottfried Semper, Architekturprofessor und Erbauer der ETH sowie Otto Wesendonck, der Förderer von Richard Wagner. Die Mitglieder des Komitees gehörten den besten und vor allem den gebildetsten Kreisen der Stadt an. Die Deutschen stellten damals Vierfünftel der Professoren an den beiden Hochschulen. Sie waren durch und durch liberal und fortschrittlich gesinnt, was ihrem glühenden Patriotismus für Deutschland keinen Abbruch tat. Nicht wenige unter ihnen, so auch Semper oder der Geschichtsprofessor Johannes Scherr, waren ehemalige Revolutionäre, die nach der Märzrevoluton 1848/49 in die Schweiz geflüchtet waren. Nicht zufällig verglich Scherr in seiner Festrede deshalb den deutschen Sieg mit der Französischen Revolution.

Die Frankreich-freundlichen Kreise empörten sich über die angekündigte Feier. Ein Flugblatt zirkulierte, das den Deutschen Verrat an der revolutionären Sache und Undankbarkeit gegenüber der Schweiz vorwarf: „Hetzer und Feiglinge haben wir nur zu viel, die den deutschen Fürsten entflohen, seinerzeit froh waren, und nun machen sie wieder gemeinsame Sache mit dem blutigsten aller Fürsten.“ Gemeint war damit der preussische König, der die liberale Revolution von 1848/49 niedergeworfen hatte.

Die Drohungen zeigten Erfolg. Die Siegesfeier wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Zur selben Zeit, Anfang Februar 1871, hatte die Französische Ostarmee, nach ihrem glücklosen General auch als Bourbaki-Armee bekannt, auf der Flucht vor den deutschen Armeen die Schweizer Grenze überquert, wo sie entwaffnet und interniert wurde. Die 90‘000 Mann zählende Armee wurde auf die ganze Schweiz verteilt, davon 11‘000 im Kanton Zürich und 4‘000 in der Stadt. Die Rückführung nach Frankreich sollte bis zum 8. März vollzogen sein, die deutsche Siegesfeier deshalb erst am folgenden Tag stattfinden.

Steinhagel auf die Tonhalle
Doch als sich am 9. März 800 Freunde der deutschen Sache im grossen Saal der alten Tonhalle beim Bellevue einfanden, waren die Franzosen immer noch in der Stadt. Während von der Tonhalle her patriotische Lieder erschallten, kam vor dem Eingang eine bedrohliche Menschenmenge zusammen. Aus ihrer Mitte prasselte ein Steinhagel auf das Gebäude nieder und zerschlug die Fenster. Einzig die wenigen Polizisten, die sich vor dem Eingang positioniert hatten, verhinderten eine Stürmung.

Während die Situation zusehends eskalierte, weigerte sich der Befehlshaber einer 150 Mann starken Kompanie, die sich gleich neben der Kronenhalle positioniert hatte, aufgrund fehlender Befehle einzugreifen. Die Situation wurde derweil immer bedrohlicher. Zwei Dutzend französische Offiziere brachen von der Gartenwirtschaft her die Türen zum grossen Saal ein, die direkt auf das Podium führten, wo die Sänger gerade eine musikalische Darbietung lieferten. Die Sänger stürmten mit Hurra auf die eindringenden Franzosen und warfen sie ins Lokal zurück, wo sie mit Biergläsern, Flaschen und anderen Wurfgegenständen eingedeckt wurden. Ein Deutscher wurde dabei lebensgefährlich verletzt.

Die Deutschen im Saal bewaffneten sich derweil mit Stuhlbeinen und Lehnen in der Absicht, die Krawallanten anzugreifen. Erst jetzt intervenierte das Militär und räumte den Bellevueplatz. 29 Krawallanten wurden verhaftet und in die Strafanstalt Oetenbach gesperrt.

Protest der deutschen Gemeinde
Die Ereignisse erschütterten die deutsche Gemeinde in Zürich, die scharf gegen den in ihren Augen mangelhaften Schutz des Festes durch Polizei und Armee protestierte. Prominente Deutsche wie der renommierte Chemiker Wislicenus erhielten Polizeischutz.

Doch der Höhepunkt der Unruhen stand noch bevor. Am Abend des 10. März versammelten sich 300 bis 400 Menschen vor dem Tor der Strafanstalt Oetenbach, um die inhaftierten Krawallanten zu befreien. Ein Armee-Bataillon trat ihnen entgegen, worauf es mit Pflastersteinen bombardiert wurde. Die Soldaten schossen in die Luft und trafen einen unbeteiligten Deutschen tödlich, der sich in einem angrenzenden Haus aufhielt.

Am nächsten Abend, es war inzwischen die dritte Krawallnacht, kam es erneut zu Scharmützeln vor dem Rathaus. Eine Schar von 30 Mann bestürmte zur gleichen Zeit die Strafanstalt Oetenbach, um einen weiteren Befreiungsversuch zu wagen. Ein Gerüst wurde kurzerhand zum Rammbock umfunktioniert und mehrmals mit Wucht gegen das Gefängnisportal gestossen. Die anwesende Wachkompanie positionierte sich inzwischen mit geladenen Gewehren auf dem Platz und warnte die Krawallanten mit Warnschüssen. Doch diese liessen nicht ab und brachten das Tor zum Einsturz.

Da erschall der Befehl zum Feuern. Zwei der Krawallanten waren sofort tot, zwei andere erlagen wenig später ihren Verwundungen. Einer der Gefallenen wurde von seinen Krawallbrüdern durch die Stadt paradiert. Die Zürcher Regierung fürchtete inzwischen nichts weniger als die Revolution: Schon am Nachmittag hatte sie den Bundesrat um die Sendung eidgenössischer Truppen gebeten. Diese trafen am Abend des 12. März in der Stadt ein und stellten unverzüglich die Ruhe wieder her.

Schweizer "Deutschenhass"
Der Tonhallekrawall war damit zu Ende, doch der Eindruck, den die Ereignisse hinterliessen, schwelte fort. Er  zerrüttete für kurze Zeit das Verhältnis zwischen der Schweiz und dem jungen Deutschen Kaiserreich. Im Blätterwald wurde heftig über den Schweizer "Deutschenhass" gestritten. Gewisse Stimmen jenseits des Rheins stellten erneut – wie schon in anderen politischen Krisen geschehen – das Existenzrecht der Schweiz in Frage.
Bismarck verhinderte jedoch eine Debatte über die Ereignisse im Reichstag: Ihm war es um Stabilität und nicht um eine weitere Verschärfung des Konflikts gelegen.

Die Beerdigung des jungen Mannes, der am 10. März versehentlich durch eine Schweizer Kugel getötet wurde, geriet zu einer eindrücklichen Demonstration der Deutschen. Der Universitäts-Rektor und Patriot Adolf Gusserow hielt die Trauerrede – und kehrte wenig später der Stadt an der Limmat den Rücken wie viele andere gelehrte Deutsche. Auch der Kaufmann und Kustmäzen Otto Wesendonck verkaufte seine Villa in der Enge, die heute das Museum Rietberg beherbergt, und zog nach Dresden. Als Folge der Ereignisse vom 9. bis 12. März 1871 verlor Zürich einige seiner brillantesten Köpfe.

Hier gehts zu Teil 1 der Serie: Die Zürcher Bombenaffäre 1889.

Die Führung «Krieg, Terror und Revolution» findet jeweils Sonntags um 14 Uhr auf Deutsch und um 17 Uhr auf Englisch statt. Der Treffpunkt befindet sich am Rennweg vor der Buchhandlung Orell Füssli. Preis: 25 Fr.

 

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Leserkommentare

Ulf Renken - Als Hinweis kann an dieser Stelle für deutsche Arbeitnehmer in der Schweiz, die dort ihren Wohnsitz haben, noch angemerkt werden, dass man darauf achten sollte, dass, auch wenn man nachweislich nicht in der Kirche ist, diese Steuer nicht belastet wird. Denn
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