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Interview

"Das Potenzial der Kinder wird nicht genutzt"

Von: Jan Strobel

10. März 2015

Das Thema Frühenglisch in der Primarschule erhitzt die Gemüter. Macht der Unterricht für die Kinder überhaupt Sinn? Und was passiert im Gehirn der Schüler, wenn sie eine Fremdsprache lernen? Urs Maurer, Professor für kognitive Neurowissenschaften, wollte es genauer wissen und führte an der Uni Zürich eine Studie durch.

Urs Maurer, grundsätzlich gefragt: Wie sinnvoll ist Frühenglisch in den Zürcher Primarschulen?

Urs Maurer:
Es lohnt sich mit Sicherheit, möglichst früh mit dem Lernen einer Fremdsprache zu beginnen. Bis zum Alter von  etwa sieben, acht Jahren fällt es Kindern sehr leicht, weil die Sprachlautverarbeitung im Gehirn in diesem Zeitraum noch besonders gut formbar ist. Vor diesem Hintergrund macht also der Früh­englischunterricht durchaus Sinn, allerdings kamen wir in unserer Studie zum Ergebnis, dass es da noch einige Verbesserungsmöglichkeiten gibt. 

Wie gingen Sie bei der Studie vor?

Für die Studie haben wir über 100 Schulkinder untersucht. Zuerst testeten wir bei Zürcher Schülern die Lesefähigkeit und den Wortschatz, und zwar ein erstes Mal in der 1. Klasse,  kurz bevor sie in der 2. Klasse mit dem Frühenglisch begannen, und ein zweites Mal ein Jahr später. So konnten wir ermitteln, wie sich im Lauf dieses ersten Jahres Englischunterricht der Wortschatz entwickelte. Als Vergleich zogen wir eine Gruppe von gleichaltrigen Berner Primarschülern heran, die noch kein Englisch in der Schule lernten. In Bern beginnt der Englischunterricht erst in der 5. Klasse. Die Zürcher Schüler schnitten in dieser ersten Phase unserer Studie besser ab als die Berner. Die Zürcher Kinder besassen klar einen grösseren Englischwortschatz. 

Wo tauchten Probleme auf?

In einem zweiten Schritt setzten wir bei den Kindern ein EEG ein, ein Netz von Elektroden, das die neuronalen Hirnströme misst. Wir wollten herausfinden, was im Gehirn bei der Verarbeitung von Sprachlauten geschieht, die ja für jedes Lernen einer Sprache wesentlich ist. Wir massen die Hirnströme beim auditorischen Cortex, also dem Areal im Gehirn, das für das Hören zuständig ist. So konnten wir erforschen, inwieweit fremde Sprachlaute in das Repertoire des kindlichen Gehirns wirklich aufgenommen werden. Wir spielten den Kindern dazu vertraute Sprachlaute aus dem Deutschen wie auch englische Sprachlaute vor, konkret das englische «th». Die  Reaktion des Gehirns förderte eine erstaunliche Erkenntnis zutage: Auch nach einem Jahr Frühenglisch konnten wir bei den Schülern keine verstärkte Aktivität im Gehirn erkennen, während sie bei vertrauten, deutschen Lauten stark war.
Der Wortschatz ist also da, nur das Gehirn spielt nicht mit?
Tatsächlich lassen diese Ergebnisse den Schluss zu, dass der Laut des Englischen den Schülern auch nach einem Jahr im Unterricht fremd geblieben ist. Der Klang der Sprache wurde also nicht wirklich im Sprachhirn abgespeichert.


Dieser Befund ist in der hitzigen Debatte um das Frühenglisch Wasser auf die Mühlen der Gegner. Was sagt er konkret zum Sinn des Frühenglischunterrichts aus?

Er stellt den Unterricht per se natürlich nicht infrage. Das Problem stellt sich in der Art und Weise, wie er konzipiert ist. Im Kanton Zürich zum Beispiel  schreibt der Lehrplan in der Primarstufe zwei Stunden Englisch pro Woche vor. Um eine Sprache aber intensiv zu lernen und sie sich auch anzueignen, sind diese zwei Stunden definitiv zu wenig. Das Potenzial, das die Kinder besonders beim Erlernen einer Sprache in sich tragen, wird damit nicht genutzt.

Was sagen Sie Eltern, die auf das Früh­englisch schwören, weil sie ihre Kinder für den immer globalisierteren Alltag rüsten wollen?

Unsere Studie zeigt, dass Englischlernen nicht so einfach vonstatten geht, wie sich das vielleicht gewisse Eltern wünschen. Allein mit dem Lernen von Wörtern ist es nicht getan. 
   

Welche Kinder könnten Mühe haben, eine Fremdsprache zu lernen?

Da können natürlich viele verschiedene und individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Wir konnten aber einen klaren Zusammenhang herstellen zwischen Lesefähigkeit und Sprachlernfähigkeit. Kinder, die Mühe hatten, fehlerfrei und flüssig deutsche Begriffe zu lesen, zeigten danach auch Schwierigkeiten beim Englischlernen. Dies betrifft zum Beispiel Kinder mit einer Legasthenie.

Was ist mit Kindern, die zweisprachig aufwachsen? Zumindest sie müssten doch einen klaren Lernvorteil gewissermassen von Haus aus mitbringen.

Das ist eine weitverbreitete Annahme. Allerdings konnten wir keinen Einfluss der Zweisprachigkeit auf den Lernerfolg feststellen. Dagegen ist uns noch etwas anderes aufgefallen während unserer Tests: Die schweizerdeutschsprachigen Schüler der 1. und 3. Klasse wiesen auffallend schlechte Resultate bei der Rechtschreibung auf. An was das liegt, ist bereits Gegenstand einer neuen Studie.   

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