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Interview

Chef der Bundeskriminalpolizei: René Wohlhauser.

"Das Zeugenschutzprogramm stellt keine Belohnung dar"

Von: Ginger Hebel

21. Mai 2013

Seit diesem Jahr gibt es auch in der Schweiz ein Zeugenschutzprogramm. Der Zürcher René Wohlhauser (47) ist Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP) beim Bundesamt für Polizei in Bern. Er erklärt, wie die nationale Zeugenschutzstelle funktioniert und welche Zeugen geschützt werden müssen.

Tagblatt der Stadt Zürich: Die neue Zeugenschutzstelle kostet jährlich rund 2 Millionen Franken. Gemäss Schätzungen belaufen sich die Kosten auf 5000 bis 150 000 Franken pro Zeugenschutzfall und Jahr. Warum braucht es in der Schweiz ein Zeugenschutzprogramm?

René Wohlhauser: Wir erfüllen und setzen eine gesetzgeberische Vorgabe um. Zudem haben wir den praktischen Nutzen im Vorfeld genau evaluiert. Zeugenschutz ist dort wichtig, wo wegen fehlender Beweise ein Strafverfahren von Zeugenaussagen abhängt. In der Vergangenheit gab es einige Fälle, bei denen man keine Zeugenschutzprogramme durchführen konnte, weil die gesetzliche Grundlage bisher fehlte. Die ins ­Leben gerufene Zeugenschutzstelle schliesst diese Lücke.

Werden Zeugen in Tötungsdelikt­fällen oder Frauen gegen ihre Menschenhändler vor Gericht tatsächlich aussagen, oder sind das Wunschvorstellungen?

Wohlhauser: Wir gehen davon aus, dass Zeugen künftig vermehrt bereit sein werden auszusagen, wenn sie wissen, dass wir sie und ihre gefährdeten Familien schützen. Allerdings können wir niemanden zur Aussage zwingen. Wir brauchen das Einverständnis. Wer wird in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen? Wohlhauser: Der Staatsanwalt muss einen Antrag stellen. Die Zeugenschutzstelle prüft diesen und erstellt eine Gefährdungsanalyse. Wir reden hier nicht von Bagatelldelikten. Die Zeugenschutzstelle greift nur in Fällen von Schwerstkriminalität ein; bei terroristischer Kriminalität und bei organisierten Verbrechen wie Mafia, Geldwäsche und Menschenhandel. Wir wollen Personen schützen, die aufgrund ihrer Aussage konkret und ernsthaft an Leib und Leben bedroht sind. Was passiert mit Zeugen, die vor ­Gericht aussagen? Wohlhauser: Akut gefährdete Personen werden sofort in ein sicheres Umfeld gebracht, zum Beispiel in eine bereitgestellte Wohnung oder in ein Hotel, meist gar in verschiedene, um die Spuren zu verwischen. Dann wird geprüft, ob die Person in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden kann und ob sie das auch selber will – mit allen Konsequenzen. Sie wird aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen und an einem unbekannten Ort untergebracht, für Monate, Jahre oder sogar für immer. Sie erhält neue Ausweise und Arbeitszeugnisse, einen neuen Pass, eine neue Identität. Das ist eine Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch ein grosser Einschnitt im Leben. Garantiert ein Zeugenschutzprogramm die absolute Sicherheit? Wohlhauser: Nein, die gibt es nirgends. Die Zeugenschutzstelle besteht jedoch aus professionell ausgebildeten Zeugenschützern, die das Risiko so minimal wie möglich halten. Sie verfügen über ein grosses Kontaktnetz und sind spezialisiert darauf, eine Legende aufzubauen, wozu beispielsweise Tarnpersonalien gehören. Aus einem Handwerker kann man nicht plötzlich einen Hochschulprofessor machen, die neue Identität muss auf eine gewisse Weise zur Person passen. Wir finanzieren auch Ausbildungen und Sprachkurse. Das Ziel ist, dass die Person irgendwann wieder auf eigenen Beinen stehen kann.

Sie bringen Zeugen an einem unbekannten sicheren Ort unter, der streng geheim bleiben muss. Bringt man sie ans Ende der Welt?

Wohlhauser: Nicht unbedingt. Der weiteste Weg ist nicht zwingend der sicherste. Vor allem nicht mehr, seit es das Internet gibt, das weltumspannend ist. Die Neuen Medien verkomplizieren das Zeugenschutzprogramm. Spuren im Netz sind rückverfolgbar, das ist eine Gefahr. Grundsätzlich kommen alle Länder infrage, mit denen wir diplomatische Beziehungen pflegen – auch Australien. Aber auch Nachbarländer sind eine Option.

Wie viele Personen können ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden?

Wohlhauser: Wir rechnen mit zehn bis fünfzehn Fällen pro Jahr. In der Anfangsphase sind es sicherlich weniger. Wobei ein Fall auch involvierte Familienangehörige umfassen kann. Unser Budget ist beschränkt. Doch wir können mit Sicherheit sagen, dass wir keinen ernsthaft gefährdeten Zeugen mangels Ressourcen ablehnen werden.

Sie sind seit diesem Januar Chef der Bundeskriminalpolizei. Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich konkret?

Wohlhauser: Mein Arbeitsfeld ist breit, spannend und vor allem auch international. Ich kann auf motivierte Mitarbeitende und ein eingespieltes Kader zählen. Neben meinen klassischen Führungsaufgaben möchte ich unter anderem auch die Zeugenschutzstelle bekannter machen, weil viele noch gar nicht wissen, dass es so etwas auch in der Schweiz gibt. Zudem ermittelt die BKP schwergewichtsmässig auf dem Gebiet der italienischen organisierten Kriminalität. Daneben nehmen wir zugunsten der Kantone auch unterstützende und koordinierende Aufgaben wahr. Wir müssen auch immer bereit sein für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes eintritt, ein Terroranschlag zum Beispiel; wenn auch wir derzeit davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit in der Schweiz eher gering ist.

Haben Sie den Ernstfall schon erlebt?

Wohlhauser: Ja. Beim Sprengstoffanschlag auf die Swissnuclear in Olten im Jahr 2011 wurden auch wir aufgeboten. Auch in Entführungsfälle von Schweizer Bürgerinnen und Bürger im Ausland sind wir involviert, wie beim Adliswiler Paar, das Anfang 2009 in Mali verschleppt wurde. Weil so etwas jederzeit wieder passieren kann, ­werden unsere Mitarbeitenden bestmöglich auf solche Ereignisse vorbereitet.

Verschwiegenheit ist in Ihrem Beruf das A und O. Fällt es Ihnen nicht schwer, nicht einmal mit Ihrer Familie darüber zu sprechen?

Wohlhauser: Nein, ich kann Privates und Berufliches gut voneinander ­trennen. Schon zu meiner Zeit als ­Bezirksanwalt in Zürich war Diskretion oberstes Gebot. Doch nicht nur das ganze Team der Zeugenschutz­stelle muss sich daran halten, auch die gefährdeten Zeugen stehen unter Schweigepflicht. Kontakte zu Familie und Freunden sind zumindest in der Anfangsphase nur via Zeugenschutzstelle möglich, damit die Sicherheit gewährleistet werden kann. 

Das Zeugenschutzprogramm ist umstritten. Die SVP glaubt, dass Kriminelle davon profitieren, wie der Datendieb Heinrich Kieber, der gegen Steuerbetrüger aussagte. Was sagen Sie dazu?

Wohlhauser: Das Zeugenschutzgesetz hat klare Kriterien aufgestellt, wer in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden kann und wer nicht. Nicht der Schutz der Täter, sondern derjenige der gefährdeten Zeugen steht im Zentrum. Auch gibt es in der Schweiz keine Kronzeugenregelungen, bei denen Täter für ihre Aussagebereitschaft strafbefreit werden, wie das beispielsweise bei «pentiti» (Reumütigen) in Italien der Fall ist. Das Zeugenschutzprogramm stellt definitiv keine Belohnung dar.

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