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Interview

Selbst ein klassischer Pendler: ZVV-Direktor Franz Kagerbauer. Bild: PD

Der Herr des Streckennetzes

Von: Stine Wetzel

10. Juli 2018

Seit 20 Jahren ist Franz Kagerbauer Direktor des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV). Der 62-Jährige über Politik auf dem Bremspedal, den Druck auf Chauffeure und die neue Ära im Bahnausbau.

Wann waren Sie das letzte Mal mit einem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs?

Franz Kagerbauer: Heute Morgen. Ich bin ein ganz normaler Pendler: Erst nehme ich den Bus, dann die S-Bahn bis Oerlikon. In der Regel habe ich eine Stunde von Tür zu Tür.

Sie stehen dem ZVV seit zwei Jahrzehnten vor. Was waren das für 20 Jahre für Sie?

Ich habe die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs im Kanton sogar die letzten 30 Jahre erlebt, da ich schon beim ZVV war, als es ihn noch gar nicht gab. 1988 kam ich in die entsprechende Projektgruppe. Seither hat sich viel getan: der Ausbau von der ersten Teilergänzung bis zur vierten Teilergänzung der SBB jetzt, die Verdreifachung der Fahrgastzahlen in der S-Bahn, neue Stadtbahnprojekte wie die Glattalbahn, die Limmattalbahn, das Tram Zürich-West, die Tramverbindung Hardbrücke . . . Es ist schön, wenn man in einer Branche tätig sein kann, in der es immer vorwärtsgeht. Darum bin ich wohl auch immer noch hier.

Bei der jüngsten Fahrgastbefragung hat der ZVV sehr gut abgeschnitten – ausser beim Preis-Leistungs-Verhältnis. Tatsächlich wurden die Tariferhöhungen in den letzten Jahren ausgereizt. Wie reagiert der ZVV auf die schlechten Noten?

Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist tatsächlich ein Sorgenkind. Uns ist bewusst, dass wir in einer Zeit aufgeschlagen haben, in der der Individualverkehr billiger geworden ist und die Preissensitivität der Leute zugenommen hat. Aber: Wir haben unser Angebot stetig ausgebaut, und Mehrleistung darf durchaus mehr kosten. Offenbar ist es uns aber nicht gelungen, die moderaten Aufschläge plausibel zu machen. Eines dürfen die Kunden aber auch nicht vergessen: Wir operieren selbst mit Aufschlägen nicht kostendeckend. Bund, Kanton und Gemeinden decken das Defizit von rund 328 Millionen Franken im Jahr und machen uns finanzpolitische Vorgaben.

Wie ist das Verhältnis zur Politik?

Ich war immer stolz auf den politischen Support für den öffentlichen Verkehr von links bis rechts. Inzwischen ist die Unterstützung unserer Weiterentwicklung aber keine Selbstverständlichkeit mehr.

Das heisst, Sie vermissen neuerdings den Rückhalt?

Sagen wir mal so: Im Grunde kennen wir grob schon die S-Bahn-Fahrpläne für 2035 und die nötige Infrastruktur, damit wir den Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung weiterhin gerecht werden. Aber Bäume wachsen nicht in den Himmel, die Politik muss mitspielen. Ausbauprojekte müssen stets politisch angeschoben werden. Planung, Genehmigung und Bau brauchen heute 10 bis 15 Jahre. Und dann kommen noch die rechtlichen Möglichkeiten der Einsprachen hinzu. Das kann unsere Entwicklung ganz schön schwerfällig machen.

Die «SonntagsZeitung» hat kürzlich die Ereignisdatenbank des Bundesamts für Verkehr ausgewertet: In den letzten 8½ Jahren verletzten sich 7000 Passagiere in einem öffentlichen Verkehrsmittel, fast zwei Drittel davon bei Busfahrten. Seit 2014 hätten vor allem die Stopp- und Ruckunfälle zugenommen. Fahren die Chauffeure zu ruppig?

Laut Fahrgastbefragung, in der auch die Fahrweise beurteilt wird, fühlen sich unsere Kunden sicher. Aber es ist eine Tatsache, dass der Verkehr nicht nur in den Städten dichter und für die Chauffeure sehr anspruchsvoll geworden ist. Nehmen wir nur mal die Bahnhofstrasse: Bei den vielen Fussgängern, die die Strasse beinahe überall überqueren, ist es nicht verwunderlich, wenn man mal heftig bremsen muss. Die Chauffeure sind aber gut ausgebildet. Sie kennen die Gefahr eines abrupten Manövers sehr genau und versuchen, so vorausschauend wie möglich zu fahren.

Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals sieht das Problem auch in den eng getakteten Fahrplänen.

Das kann ich so nicht unterschreiben. Die Gewerkschaften etwa gucken ja auf die Fahrplanentwürfe. Letztlich muss man jedoch schon schauen, dass der ÖV effizient und damit auch wettbewerbsfähig bleibt. Aber natürlich gibt es vereinzelt Problemfälle wie den 31er-Bus. Seit er bis nach Witikon verlängert wurde, ist er geplagt von Verspätungen.

Die aktuellen Fahrgastzahlen liegen bei 651 Millionen pro Jahr, das sind 13 Millionen mehr als im Vorjahr. Der ZVV rechnet bis 2023 mit 20 Prozent mehr Passagieren. Wie ist das zu schaffen?

Wenn wir die nächsten sechs Jahre anschauen, sind wir auf Kurs: Wir haben in diesem Jahr einen sehr grossen Fahrplanwechsel vor uns. Die letzte Etappe der vierten Teilergänzung der S-Bahn bringt zusätzliches Angebot auf der Schiene, und gleichzeitig werden auch die Buslinien vielerorts im Kanton ausgebaut. Nächstes Jahr wird die erste Etappe der Limmattalbahn in Betrieb genommen und 2022 dann die gesamte Strecke von Altstetten bis Killwangen-Spreitenbach. Das ist ein Meilenstein für das Limmattal. Auch die Verlängerung der Glattalbahn bis Kloten-Industrie ist noch im mittelfristigen Horizont vorgesehen. Anfang der 20er-Jahre bricht aber eine neue Ära an: Bisher konnten wir durchschnittlich alle vier bis sechs Jahre Teilergänzungen auf dem S-Bahn-Netz machen. Jetzt hat der Bund beim Bahnausbau das Heft in die Hand genommen, und wir können diesen Rhythmus leider nicht mehr halten. Bis die nächsten grossen S-Bahn-Projekte wie der Brüttenertunnel und der Ausbau des Bahnhofs Stadelhofen kommen, steht uns eine Durststrecke bevor.

Womit steht und fällt die Netzentwicklung für die Stadt Zürich?

Das Gesamtprojekt Rosengartentram und Rosengartentunnel ist enorm bedeutend für das öffentliche Verkehrsangebot der Stadt Zürich.

Im Frühjahr hat der ZVV nach Vorbild des Berner ÖV-Verbunds das Check-in-Ticket eingeführt: In der Ticket-App gibt man an, wenn man in ein Verkehrsmittel ein- und aussteigt, und die App berechnet automatisch den günstigsten Tarif. Bis Ende Mai wurden 37 000 solche Tickets verkauft. Sind Sie damit zufrieden?

Es ist schön, zu sehen, dass das Konzept auf dem Markt greift. Ich halte das Check-in auch persönlich für den Kanal der Zukunft, weil der Kunde keine Tarife kennen muss. Ich betone aber das Wort Zukunft. Die bestehenden Verkaufskanäle wie Ticketautomaten bleiben sicher noch eine ganze Weile bestehen.

Das Nachtnetz wurde 2002 eingeführt und steht seither immer wieder mal in der Kritik. Der Kantonsrat hat im März beschlossen, dass es auf den Prüfstand kommt. Ihr Urteil zum Nachtnetz?

Unser Nachtnetz kann sich sehen lassen, es ist zeitgemäss, und wir betreiben es kostendeckend. Jeder, der das anders sieht, sollte sich einmal im Ausland umsehen. Deshalb dürfen wir uns aber nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Das Rendez-vous-System, nach dem um 1 Uhr alle Busse gleichzeitig am Bellevue abfahren, darf man kritisch hinterfragen. Den politisch verordneten Prüfstand halte ich für richtig. Es ist immer gut, zu überlegen, wie das Bestehende auch noch aussehen könnte. Sollen wir beispielsweise das Nacht- dem Tagesnetz angleichen? Das Netz auf Donnerstag ausweiten? Das werden wir in den nächsten ein bis zwei Jahren sorgfältig prüfen.

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