Interview
Der Sog des Todes war stärker
Von: Christian Beck
FREITOD Die Zürcherin Margrit Schäppi will mit Exit aus dem Leben scheiden. Zuvor aber überredet sie den «Persönlich»-Verleger Matthias Ackeret, ihre Lebensgeschichte zu publizieren. Entstanden ist mit «Die Glückssucherin» ein zum Nachdenken anregendes Buch, dessen Veröffentlichung die Mitautorin jedoch nicht mehr miterleben konnte.
Wie lernten Sie Margrit Schäppi kennen?
Matthias Ackeret: Im Sommer 2017 schickte mir eine Frau namens Margrit Schäppi ein Manuskript mit ihrer Lebensgeschichte. In einem beigelegten Brief erkundigte sie sich, ob ich einen Verleger kennen würde, der dies publizieren würde. Als nichts passierte, kontaktierte sie mich Anfang dieses Jahres erneut. Ich wich aus und sagte, man könne ihre Story notfalls auch ins Internet stellen. Margrit Schäppi meinte nur: «Sie müssen aber pressieren, ich mache nächste Woche Exit.»
Und dann klingelten Ihre Alarmglocken . . .
Ich war völlig schockiert. «Sie können doch nicht Exit machen», antwortete ich. Margrit Schäppi lachte: «Warum? Sind Sie religiös?» Ich habe sie kurz danach in einem Zürcher Café getroffen und versuchte, sie von diesem Ansinnen abzubringen. Danach habe ich sie noch zweimal telefonisch kontaktiert. «Wenn Sie in letzter Sekunde noch Ihre Meinung ändern sollten, rufen Sie mich doch an», sagte ich. Frau Schäppi bedankte sich, rief aber nicht mehr an. Sie ist am 19. Januar dieses Jahres verstorben.
Hatte Margrit Schäppi gewusst, dass Sie Ihr Manuskript veröffentlichen werden?
Ja, ich hatte dies sogar als Argument benutzt. «Es wäre doch schön, wenn Sie noch die Publikation des Buches erleben würden», sagte ich. Doch dies wollte sie nicht mehr, zu stark war ihr Wille, aus dem Leben zu scheiden. Sie gab mir aber die Erlaubnis, ihr Manuskript nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Dieses Buch wäre ihr Traum gewesen. Wir haben ausser dem Titel und den Namen der Hauptprotagonisten nichts verändert. Leider kann sie jetzt die Publikation der «Glückssucherin» nicht mehr miterleben.
Was können Sie zum Inhalt von «Die Glückssucherin» sagen?
Margrit Schäppis Lebensgeschichte ist wirklich sehr packend. Es ist die Story einer Frau, die ihr ganzes Leben nach Wohlstand und auch nach dem Glück gesucht hat. Mit ihrem zweiten Ehemann, einem 38 Jahre jüngeren Ägypter, trat sie bei RTL und TV3 auf – 15 minutes of fame. Doch am Ende war sie völlig vereinsamt und lebte in einer Zürcher Wohnsiedlung. Dabei reifte die Idee, Exit zu begehen. Der zweite Teil des Buches, in dem ich meine Begegnung mit Frau Schäppi beschreibe und auch Kritik an der gängigen Sterbehilfepraxis äussere, ist die traurige Fortsetzung.
Wie erlebten Sie Margrit Schäppi?
Wir haben uns nur einmal in diesem Café an der Badenerstrasse getroffen. Sie war charismatisch, aufmerksam, aber auch witzig. Ja, sie wirkte sogar vital. Das ist ja das Verrückte: Trotzdem hatte sie den Eindruck, Exit machen zu müssen. Doch ihr Hausarzt habe ihr die notwendige «Sterbebewilligung» verweigert, erzählte sie. Daraufhin ging sie zu einer anderen Ärztin, die ihr innert 70 Minuten das notwendige Dokument unterschrieb. Das ist erschreckend. Wäre Margrit Schäppi zur Dargebotenen Hand oder zu Pfarrer Sieber gegangen, würde sie möglicherweise noch leben. Manchmal können Menschen in etwas hineingezogen werden, das sie im Innersten gar nicht wirklich wollen.
Sie haben im Buch ein Nachwort verfasst. Hat sich Ihr Blick auf die Sterbehilfe während des Schreibens verändert?
Nicht wirklich. Ich hatte gegenüber der Sterbehilfe, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, immer ein fahles Gefühl. Ausgelöst wurde dies durch einen kritischen «Spiegel»-Artikel in den 90er-Jahren, der sich mit der Sterbehilfe auseinandersetzte. Als «TeleZüri»-Reporter habe ich vor bald 20 Jahren eine Exit-Veranstaltung in einem Zürcher Hotel besucht. Einer der Exit-Chefideologen meinte ganz nüchtern: «Wir durften im vergangenen Jahr x Prozent weniger Menschen in den Tod begleiten als im Vorjahr.» Das erinnerte mich stark an die Bilanzpressekonferenz eines börsenkotierten Unternehmens. Warum ist die Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern gegenüber der Sterbehilfe so liberal? Sterbehilfe, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, ist eine Schweizer Spezialität wie früher das Bankgeheimnis. In Artikel 115 des Schweizer Strafgesetzbuches steht, dass Beihilfe zum Selbstmord nur dann bestraft werden kann, wenn es «aus selbstsüchtigen Beweggründen» geschieht. Alle anderen bleiben straflos. Diese Formulierung ermöglicht das «Businessmodell Sterbehilfe». Und dieses «Businessmodell» scheint zu funktionieren? Es gibt in dieser Frage kein Schwarz oder Weiss. Margrit Schäppis Fall eignet sich nicht als Fundamentalkritik über die Sterbehilfe. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass in der Schweiz täglich im Schnitt drei Personen dank der Suizidhilfe aus dem Leben scheiden. Tendenz steigend. Mittlerweile teilen sich fünf Organisationen – wobei Exit die grösste ist – den «Kuchen» auf. Vielfach rückt die Staatsanwaltschaft nach einem «aussergewöhnlichen Todesfall» wie der Suizidhilfe nicht einmal mehr aus. Es ist doch interessant, dass die gesamte Wirtschaft immer mehr unter staatlichen Eingriffen und Kontrollen leidet. Aber bei der existenziellsten Frage überhaupt, dem Leben, schauen Gesellschaft und Staat gerne weg oder wirken überfordert. Gleichzeitig gilt bei uns Kritik an der Sterbehilfe fast schon als politisch unkorrekt. Ich hoffe, dass «Die Glückssucherin» einen Beitrag zu dieser wichtigen und vielfach existenziellen Debatte leistet.
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Zur Person
Matthias Ackeret (geb. am 9. 9. 1963) ist promovierter Jurist, Verleger und Chefredaktor von «Persönlich», der führenden Kommunikationszeitschrift der Schweiz. Zuletzt veröffentlichte er den Roman «Eden Roc». Er gehörte dem Urteam von TeleZüri an, wo er sich mit sozialen Themen, vor allem aber mit der Drogenszene und dem Engagement von Pfarrer Sieber beschäftigte.
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