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Interview

"Die Mädchen zittern und weinen"

Von: Clarissa Rohrbach

01. Juli 2014

Seit 20 Jahren finden im Mädchenhaus junge Frauen Zuflucht, die zu Hause Gewalt erleben. Co-Leiterin Karin Aeberhard erklärt, was sie durchmachen.

Tagblatt der Stadt Zürich: Die jüngsten Bewohnerinnen im Mädchenhaus sind 14 Jahre alt. Es braucht viel Mut, um in diesem Alter von zu Hause zu flüchten.

Karin Aeberhard: Die Mädchen zeigen eine enorme Kraft. Anderseits stehen sie so unter Druck, dass ihnen nicht viel anderes übrig bleibt. Einige lassen sich zuerst beraten, wägen den Schritt lange ab. Andere fliehen während eines Konflikts Hals über Kopf – ohne Koffer und ohne Ausweise –, weil sie es nicht mehr aushalten.

Meistens sind es die Eltern, welche Gewalt anwenden. Wieso?

Häufig sind diese Familien ein in sich geschlossenes System. Die Mädchen spielen darin eine untergeordnete Rolle und werden stark kontrolliert. Mit der Pubertät wollen sie sich nach aussen orientieren und andere junge Menschen kennen lernen. Die Eltern können damit nicht umgehen, weil sie oft über den Partner ihrer Töchter bestimmen wollen. Zwangsheirat ist immer wieder ein Thema bei uns.

Haben die Mädchen einen Migrationshintergrund?

Die meisten kommen aus Kosovo und der Türkei oder auch Süditalien, Portugal und Afrika. Es kann aber auch bei Schweizern Zwangsheiraten geben, vor allem in sehr religiösen Kreisen. Allgemein sind die Mädchen in patriarchalischen Regeln gefangen, die ihnen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.

Wie gehen die Mädchen mit der physischen und psychischen Gewalt um?

Jeder Fall ist anders. Wir hören von Mädchen, die geschlagen wurden, dass sie sich daran gewöhnt hatten. Sie sagten sich zum Teil: «Na ja, jetzt werde ich halt wieder verprügelt.» Psychischer Druck und Gewalt gehen tiefer. Einige Töchter sind das schwarze Schaf der Familie, werden als Putzfrau abgewertet und allein gelassen. Wer so wenig Liebe erfährt, braucht lange, um sein Selbstvertrauen wieder aufzubauen.

Welches Schicksal hat Sie am meisten getroffen?

Vor ein paar Jahren wohnte eine junge Frau bei uns, die von ihrem Vater und ihrem Bruder sexuell missbraucht worden war: Sie wurde schwanger und entschied, das Kind zu behalten.

In welchem Zustand sind die Mädchen, wenn sie zu Ihnen kommen?

Viele leiden unter Panikattacken, sie zittern und weinen, während sie sich an das Geschehene erinnern. Oder sie essen und schlafen nicht mehr. Im Mädchenhaus finden sie zum ersten Mal jemanden, der ihnen zuhört, und fühlen sich dank der anderen Bewohnerinnen nicht allein. Um das Trauma zu überwinden, braucht es allerdings eine jahrelange Therapie.

Etwa ein Drittel der Mädchen kehrt zur Familie zurück. Wieso?

Sie sind sich nicht sicher, ob sie richtig gehandelt haben. Oft binden die Verwandten die Mädchen an die Familie, indem sie ihnen ein schlechtes Gewissen einreden. Manchmal auch mit erfundenen Geschichten, wie zum Beispiel, sie hätten die Familie zerstört oder die Grossmutter liege ihretwegen im Sterben.

Rund die Hälfte findet eine andere Wohnlösung. Wie sieht diese aus?

Viele Mädchen haben nie gelernt, selbstständig zu leben, auch wenn sie bereits volljährig sind. Deswegen können sie nicht von heute auf morgen auf eigenen Beinen stehen. Am besten eignet sich eine begleitete WG für sie.

Um die Bewohnerinnen zu schützen, ist die Adresse des Mädchenhauses geheim. Sickert da nichts durch?

Sicherheit ist für die Mädchen das Wichtigste. Wir betreiben einen gros­sen Aufwand, um die Adresse geheim zu halten. Die Mädchen unterschreiben eine Schweigepflicht, müssen den Ortungsdienst auf dem Handy abstellen und dürfen keine Fotos des Hauses auf Facebook stellen. Diese Regeln einzuhalten, ist für Teenager nicht immer einfach. Aber bis jetzt standen die Eltern noch nie vor dem Haus.

Zum 20-Jahr-Jubiläum findet heute Abend ab 19 Uhr im Volkshaus ein Fest mit Podiumsdiskussion und Konzert statt.

Das Mädchenhaus ist auf Spenden angewiesen (www. maedchenhaus.ch).

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