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Interview

Die Psychologin Erika Toman hat sich auf Essstörungen spezialisiert. Bild: PD

"Essen wird oft als Feind dargestellt"

Von: Jan Strobel

10. Dezember 2013

Die Zürcher Psychologin Erika Toman beschäftigt sich mit einem Thema, das häufig pauschal als blosse Zivilisationskrankheit abgetan wird - Essstörungen. Betroffen sind vor allem junge Frauen. Am 13. Januar eröffnet nun das Diakoniewerk Bethanien unter Tomans therapeutischer Leitung bei Stein am Rhein das therapeutische Wohnheim «power2be» mit essstörungsspezifischer Betreuung. Anlaufstelle für die Anmeldung betroffener Frauen ist die Triagestelle an der Forchstrasse 132. Mit dem «Tagblatt» sprach die Mutter von vier Töchtern über ihr Engagement bei der Unterstützung der Betroffenen im Kampf gegen die Krankheit.

Tagblatt der Stadt Zürich: Erika Toman, unzählige Kochsendungen feiern täglich ausgewogene Ernährung, in den sozialen Netzwerken herrscht das sogenannte «Food Porn»-Phänomen. User fotografieren ihre Gerichte und teilen die Bilder mit der Community. Essen ist omnipräsent, gleichzeitig scheint es unsere Gesellschaft verlernt zu haben, richtig zu essen.

Erika Toman: Tatsächlich wird Kochen und Geniessen medial zelebriert, und gleichzeitig wird das Essen gefürchtet, oft als Feind dargestellt. Die Verunsicherung ist gewachsen: Mal heisst es, Butter sei ungesund, dann plötzlich ist es die Margarine. Mal soll man viel Obst essen und dann ist wieder Fruchtzucker gefährlich.

Was heisst das eigentlich, «richtig essen»?

Toman: Vereinfacht lässt sich sagen: Wer durch ein gesundes Gespür für Hunger und Sattheit gesteuert ist und von allem isst, ohne sich allzu viele Gedanken über sein Essverhalten zu machen und dabei ein stabiles Körpergewicht hält, der isst richtig. Wichtig ist auch der soziale Aspekt: Essen unterstützt ja immer auch ein Gemeinschaftsgefühl.


Wer sich also Tag für Tag einbunkert und vor dem Fernseher frustriert Fast Food  in sich hineinstopft, der hat eine Essstörung?
 
Toman: So simpel ist das nicht. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen einem gestörten Essverhalten und einer Essstörung. Ein gestörtes Essverhalten liegt dann vor, wenn mehr als 20 bis 30 Prozent der Lebensenergie mit den Fragen der richtigen Ernährung und mit Sorgen um das eigene Körpergewicht gebunden werden. Wenn aber die Beschäftigung mit Essen und Figur die Lebensqualität massiv beeinträchtigen, die Arbeits-, Beziehungs- und Genussfähigkeit stark leidet und Symptome dazu kommen wie massives Untergewicht, Essanfälle oder Erbrechen, dann spricht man von einer Essstörung. Essstörungen sind schwere psychiatrische Erkrankungen. Dazu zählen die Bulimie, die Ess-Brech-Sucht und die Anorexie, die Magersucht.

Was genau sind die Merkmale der Bulimie?

Toman:
Für den Bulimie-Kranken ist das Gefühl des Sattseins oft unerträglich, es löst Angst vor Gewichtszunahme aus, die gleichgesetzt wird mit Versagen. Das eben anfallartig zu sich genommene Essen muss also sofort wieder raus, weil  das subjektive Empfinden ständig sagt: Du bist zu dick. Du bist nicht in Ordnung. Das Selbstwertgefühl ist fast komplett an Figur und Gewicht geknüpft. Dabei ist das Gewicht objektiv betrachtet meistens unauffällig.

Und wie sieht das bei der Anorexie aus?

Toman: Anorexie weist mit 10 Prozent eine der höchsten Sterblichkeitsraten unter den psychiatrischen Erkrankungen auf. Die sehr pflichtbewussten und sensiblen Menschen wachsen häufig in einem harmonischen Umfeld auf, lernen aber nicht, sich gesund abzugrenzen, da sie und ihr Umfeld Abgrenzung mit Aggression gleichsetzen. In einer solchen Situation wählen sie unbewusst das Hungern als eine Möglichkeit, über sich selbst, oder zumindest über ihren Körper, selbst zu bestimmen. Der Mund wird zur letzten Bastion der Selbstbestimmung. Wir kennen das Phänomen auch bei Menschen, die in einen Hungerstreik treten. Bei der Bulimie zeigt sich genau das Umgekehrte: Mangelndes Geborgenheitsgefühl wird durch übermässiges Essen kompensiert. In beiden Fällen handelt es sich um eine Schein-Autonomie. Dabei ist die totale Kontrolle eine Fiktion.

Wann ist jemand besonders gefährdet an einer Essstörung zu erkranken?

Toman: Das Geschlecht spielt eine zentrale Rolle. Es sind zum überwiegenden Teil Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 35 Jahren, die von Bulimie oder Anorexie betroffen sind. Weitere Risikofaktoren sind übersteigerter Perfektionismus, eine hohe Sensibilität und schliesslich auch das gesellschaftliche Umfeld, wenn es leistungsorientiert ist und Schlankheit idealisiert.

Weshalb sind Männer kaum betroffen?

Toman: Vielleicht, weil sie ihre Aggressionen, Stress oder Druck mehr nach aussen tragen, während Frauen sie nach innen wenden. Häufiger kommen Essstörungen allerdings bei homosexuellen Männern vor.

Was können Eltern tun, um das Risiko einer Essstörung bei ihrem Kind zu vermeiden?

Toman: Esstörungen nehmen ja meist in der Pubertät ihren Anfang, wenn sich der weibliche Körper plötzlich sehr sichtbar, quasi öffentlich, zu verändern beginnt. Dazu gehört auch eine Gewichtszunahme, die absolut normal ist. Die Umwelt reagiert aber oft unsensibel auf diese Veränderungen. Auch Eltern gehen mitunter gleich aufs Gewicht der Tochter los. Es ist aber wichtig, dass  sie diese Themen respektvoll und zurückhaltend kommentieren, dem Kind eine Partnerschaft, Gelassenheit signalisieren. Sie ist das Fundament, um den Alltag auch ausserhalb der schützenden Familie meistern zu können.
 

Im Januar eröffnet das therapeutische Wohnheim «power2be Bethanien». Wie helfen Sie dort den Betroffenen?

Toman: Wir setzen da an, wo bislang eine Lücke in der sozialen Versorgung besteht. Wir bieten jungen Frauen ab 18, in Ausnahmefällen ab 16 Jahren, ein Zuhause auf Zeit an, unterstüzen sie im Heilungsprozess, ohne ihren individuellen Tagesablauf draussen zu ändern. Mahlzeiten werden in der Gruppe zubereitet und auch gemeinsam gegessen, immer mit fachlicher, persönlich zugeschnittener Begleitung und Therapie. Wir möchten den Betroffenen helfen, ihre Lebensziele voran zu treiben und parallel dazu an ihrer Genesung zu arbeiten.

www.bethanien.ch

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