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Interview

Silvia Steiner beim Besuch einer Schulklasse. Für die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülern weit über das Schulische hinausgeht. «Schule ist im besten Fall ein Ort, wo sich junge Menschen entfalten können.» (Bild: PD)

«Identität ist für die Schweiz als Willensnation sehr wichtig»

Von: Werner Schüepp

27. Juli 2021

Regierungsrätin Silvia Steiner hält am 1. August in der Stadthausanlage beim Bürkliplatz die Ansprache. Hier sagt die 63-Jährige, was ihr die Schweiz bedeutet, welche Bilanz sie als Regierungsratspräsidentin zieht und wie sie als Mitte-Politikerin in Corona-Zeiten schläft. 

Wenn Sie sich an Ihre Kindheit erinnern, wie verlief der 1. August im Elternhaus ab?

Silvia Steiner: Ein eigentliches Ritual gab es bei uns nicht. Wir waren mit meinen Eltern vielfach an einer 1.-August-Feier. An die Reden erinnere ich mich nicht, aber als Kinder hatten wir immer ein Riesengaudi und spielten zwischen den Festzelten und Festbänken Fangis und Versteckis.

Wenn Sie keinen Auftritt als Politikerin haben, Sie privat den Nationalfeiertag feiern, was gehört für Sie alles zu einer 1.-August-Feier dazu?

Als Regierungsrätin bin ich natürlich am 1. August viel unterwegs und halte Reden – letztes Jahr war das  anders, da gab es keine Veranstaltungen. Dafür   durfte ich eine Rede aufzeichnen fürs Radio. Den Tag selbst habe ich dann gemütlich im Kreis meiner Familie genossen und am Abend das Feuerwerk in der Nachbarschaft bewundert.

Was bedeutet Ihnen der 1. August?

Sehr viel. Als Politikerin gibt er einem die Gelegenheit, auf einfache Art und Weise mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Was gibt es Gemütlicheres, als bei angenehmen Temperaturen auf einer Festbank zu sitzen, einen Cervelat zu essen und sich mit anderen Menschen auszutauschen?

Am 1. August wird die Gründung der Schweiz gefeiert. Was macht für Sie die «Schweiz» aus?

Ich empfinde vor allem Dankbarkeit. Als Bürgerin bin ich froh, in einem Land zu leben, das die Grundbedürfnisse der Menschen, die körperliche und seelische Unversehrtheit, als schützenswert erachtet. Gerade im Coronajahr zeigte sich, dass das Recht auf Bildung unantastbar ist. Viele Menschen haben sich für unsere Schulen, für die Kinder und Jugendlichen eingesetzt. Als Regierungsrätin sehe ich es als grosses Privileg, dass ich aktiv zu einer lebenswerten Schweiz und einem attraktiven Bildungsstandort beitragen darf.

In diesen Tagen fallen wieder oft die Begriffe «Heimatliebe» oder «Schweizer Identität». Können Sie damit etwas anfangen?

Heimatliebe geht für mich etwas weit, ich würde eher von Heimat-Dankbarkeit reden. Identität ist für die Schweiz als Willensnation sehr wichtig. Dabei hat die Schule eine grosse Bedeutung: Sie ist heute der einzige Ort in unserer Gesellschaft, an der alle zusammenkommen. Unabhängig von ihrem sozialen, religiösen oder kulturellen Hintergrund. Die Schule und damit alle Lehrpersonen, Schulleiter, Schulpfleger und so weiter leisten wertvolle Integrationsarbeit. Unser Bildungssystem bildet die Grundlage für eine gute und friedvolle Zukunft und es ist die Basis für die Schweizer Identität.

Am Nationalfeiertag geht es auch um den Zusammenhalt im Land / Volk. Bei den jüngsten Volksabstimmungen kam das Gefühl auf, dass es eine Kluft zwischen Stadt und Land gibt? Wie denken Sie darüber?

Wir sind uns darin einig, dass zum Beispiel Menschen in der Stadt anders ticken als auf dem Land. Wir konnten im Coronajahr auch erleben, dass jeder Kanton seinen eigenen Umgang mit der Pandemie finden konnte. Über den Föderalismus kann man trefflich streiten. Aber ist es nicht gerade die Autonomie, die wir so gern hochhalten – gerade am 1. August? Sei es als Gemeinde, als Kanton, aber auch als Individuum. Ich denke, dass uns die Autonomie so viel Wert sein muss, dass wir auch grosse Unterschiede akzeptieren.

Im vergangenen Jahr fiel in Zürich die offizielle 1.-August-Feier wegen Corona aus. Dieses Jahr findet der Anlass mit Auflagen und Ihnen als Ehrengast statt. Worauf freuen Sie sich?

Mein Präsidialjahr ist etwas anders verlaufen als geplant: Corona hatte den grossen Auftritt und mit ihm der Herr Bundesrat Berset, die Ski-Terrassen oder das Testen … Dass ich trotz allem heute, ein Jahr später als geplant, hier stehen darf, ist mir deshalb nicht nur eine Ehre, sondern für mich auch ein besonderes Zeichen der Wertschätzung, welches man mir als Stadtzürcherin zukommen lässt.

Ihre Rede steht im Zentrum des Festes. Welche Themen werden Sie hervorstreichen? 

Natürlich kommt 2021 kaum eine 1.-August-Rede ohne das Thema Corona aus. Es geht dabei um den Schwatz mit den Nachbarn, die auf ihren Balkonen bräteln oder um bunte Girlanden auf Pausenplätzen – und warum das Sinnbilder sind für eine Schweiz, die auch während der Corona-Pandemie gar nicht so schlecht funktioniert. Mehr möchte ich aber nicht verraten.

Die Pandemie war das Thema der vergangenen Monate: Gab es Momente als Regierungspräsidentin oder «oberste Lehrerin des Kantons», in denen Sie schlecht geschlafen haben?

Die Frage müsste wohl eher lauten, ob es eine Nacht gab, in der ich gut geschlafen habe (lacht). Den absoluten Tiefpunkt erlebte ich am Freitag, 13. März 2020, als ich den Lehrpersonen nach dem Entscheid des Bundesrates mitteilen musste, dass die Schulen am Montag, 16. März, nicht öffnen. Dass man also die Kinder aus den Schulhäusern verbannte und die Jugendlichen ins Homeoffice schickte. Nach der Umstellung auf Fernunterricht die verwaisten Schulhäuser zu sehen, hat mir richtig wehgetan. Sonst habe ich eher einen tiefen Schlaf und bin es aus meiner Zeit bei Polizei und Justiz gewohnt, mit Krisensituationen umzugehen.

Der Regierungsrat wurde wie viele andere Gremien wie etwa der Bundesrat durch die Pandemie «auf dem linken Fuss» erwischt. Hat Covid-19 den Zusammenhalt eher gestärkt?

Meiner Ansicht nach haben wir in der Gesamtregierung und auch mit dem Bundesrat am Schluss immer gute Lösungen gefunden, hinter denen alle stehen konnten. Damit man an diesen Punkt kommt, muss man die Dinge ausdiskutieren. Dies war mir als Regierungspräsidentin sehr wichtig. Denn die Coronamassnahmen bedeuten Eingriffe in die Grundrechte. Solche Massnahmen darf man nicht leichtfertig treffen. Wir mussten Güterabwägungen vornehmen, und zwar so, dass möglichst wenig Menschen zu Schaden kommen. Wenn man in einem Gremium solche Grundsatzdiskussionen führt, stärkt das den Zusammenhalt auf jeden Fall.

Es gab auch scharfe Kritik an Ihnen: Parteien kritisierten, Sie kapitulieren vor dem Virus und verfügen lebensfremde Massnahmen. Stichwort Halbklassenunterricht, als fast alle Deutschschweizer Kantone den Schulbetrieb wieder aufnahmen. Würden Sie nochmals gleich handeln?

Die Kommunikation wra manchmal schwierig. Denn viele meinten aufgrund des Resultates, das ihnen kundgetan wurde, wüssten sie, wie die Diskussionen gelaufen sind. Dass wir nicht alle mitnehmen konnten auf dieser schwierigen Reise durch die Pandemie; dass der Grat für manche auch zu schmal war, das ist für mich eine Lehre aus Corona. Dass der Halbklassenunterricht übrigens ein guter Entscheid war, hat sich danach bestätigt. Die Kinder konnten auf optimale Art und Weise wieder in die Schule integriert werden. Das hat sich wirklich gelohnt. Das war ein Entscheid zugunsten der Kinder und nicht der Erwachsenen. Das gebe ich gerne zu.

Befürchten Sie wegen Corona einen Engpass bei den Lehrstellen im Kanton Zürich?

Im Moment herrscht durch die Corona-Zusatzfinanzierung des Bundes eine künstliche Situation. Laut Experten resultiert dies aktuell sogar in einer unterdurchschnittlichen Konkurssituation, die sich (noch) positiv auf die Lehrstellensituation auswirkt. Sobald die finanzielle Unterstützung des Bundes ausläuft, könnte es zu einem Anstieg der Konkurse kommen. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Daher hat der Regierungsrat vor kurzem ein Massnahmenpaket von 25,5 Millionen Franken geschnürt. Dieses Paket setzt überall dort den Hebel an, wo wir die Lernenden am besten unterstützen können. Und das ist überall dort, wo schon heute die verschiedenen Partner in der Berufsbildung eng und erfolgreich zusammenarbeiten.

Wie verändert Corona die Schule beziehungsweise das Leben im Kanton Zürich?

Die Pandemie hat verdeutlicht, dass die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern weit über das Schulische hinausgeht. Schule gibt vielen Kindern und Jugendlichen Halt. Sie gibt Struktur im Alltag, sie ermöglicht den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen und ist im besten Fall ein Ort, wo sich junge Menschen entfalten können. Das gilt in allen Zeiten, aber während einer Pandemie ganz besonders. Ich glaube, diese Erkenntnis ist während der Corona-Zeit einer breiten Öffentlichkeit noch stärker bewusst geworden. Ich hoffe, dass dies unser Bildungssystem weiter stärkt. Tragen wir gemeinsam Sorge zu den Schulen. Denn die Schule ist ein Ort, der uns vereint.

Ende April gaben Sie ihr Amt turnusgemäss als Regierungspräsidentin ab. Ihre Bilanz?

Ich darf eine positive Bilanz ziehen: Gefreut hat mich vor allem, dass viele Leute dasselbe Ziel hatten wie ich: sich mit voller Kraft dafür einzusetzen, dass möglichst alle möglichst unbeschadet aus dieser Krise herauskommen. Ich denke, das ist uns in vielen Bereichen gelungen. Dass die Schulen seit Mai 2020 offen sind, ist für mich ein Highlight. Dass viele auch die grosse Bedeutung des Bildungswesens für das Funktionieren der Gesellschaft erkannt haben, freut mich auch sehr.

Ihr präsidiales Amtsjahr stand im Zeichen des Virus. Gab es auch prägende Ereignisse, die damit nichts zu tun hatten?

Wenige, leider. Dafür waren diese umso eindrücklicher. Ein total schönes – und wegen Corona einmaliges – Erlebnis gegen Ende meines Präsidialjahres war die Böögg-Verbrennung in der Schöllenenschlucht. Dieser grossartig organisierte Anlass war für mich ein erster Schritt zurück in die Normalität und hatte hohen Symbolcharakter.

Was wünschen Sie der Schweiz zum Geburtstag?

Ich wünsche der Schweiz zum Geburtstag das, was man allen Geburtstagskindern unabhängig von ihrem Alter wünscht. Aber dieses Jahr wünsche ich es mit ganz besonderem Nachdruck: gute Gesundheit.

Weitere Informationen:

1. August, 11.30 Uhr, Bundesfeier, Stadthausanlage, Bürkliplatz. Corona-bedingt ist die Feier auf maximal 1000 Besucher beschränkt. Sitzpflicht. Es findet eine Eingangskontrolle statt.
www.bundesfeier.ch

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