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Interview

Kennt keine Diskriminierung: Traumatologe Avi Rivkind bei einer Rettungsübung in Jerusalem. Bild: Avi Hayum

"Jeder Mensch will am Leben bleiben"

Von: Jan Strobel

22. September 2015

Avi Rivkind ist Leiter der Traumaklinik des Hadassah-Spitals in Jerusalem und weltweit als Experte in der Terror-Medizin gefragt. In seiner Abteilung behandelt er sowohl Opfer als auch Attentäter. Am 30. September ist Rivkind in Zürich zu Gast.

Der Mann, der an diesem 29. Mai 1996 in den Operationssaal des Jerusalemer Hadassah-Spitals mit schweren Bauchverletzungen eingeliefert wurde, war ein Massenmörder. Hassan Salameh, Palästinenser, war einer der Drahtzieher hinter den Selbstmordanschlägen auf zwei Busse mitten in Jerusalem. 45 Menschenleben hatte der Mann auf dem Gewissen. Avi Rivkind, der Chirurg im Hadassah, sollte jetzt Salamehs Leben retten.

Avi Rivkind, was geht in Ihnen in einem solchen Moment vor?

Ich konnte ihm beweisen, dass er, kommt er zu einem israelischen, jüdischen Arzt, die beste Behandlung der Welt erhält. Diese Terroristen, die israelische Zivilisten töten, werden in ihrem Lager als «Helden» stilisiert. Und jetzt war da einer, der von einem israelischen Arzt gerettet wurde. Ich wollte ihm und seinen Anhängern zeigen: Wir sind Menschen. Aber zu starke Emotionen dürfen in meiner Arbeit grundsätzlich keinen Platz haben. Wenn ich die Opfer eines Terroranschlags retten muss, kommt es auf jede Minute an. Wir müssen dann einfach funktionieren.

Welche Mission treibt Sie an?

Ich bin das einzige Kind von Holocaust-Überlebenden und habe gelernt, dass jeder Mensch, mag die Situation noch so schlimm sein, tief in seinem Herzen einfach am Leben bleiben will. Und wir sollen alles dafür tun, um ein Menschenleben zu retten, ungeachtet dessen, woher dieser Mensch kommt oder was er ­getan hat. Wenn ich in israelischen Zeitungen die schwarz umrahmten Todesanzeigen junger Menschen sehe, dann ergreift mich das schmerzlich. Ich denke dann: Wir haben zu wenig für diese Menschen getan. Und in meinem Wertesystem gibt es keine Diskriminierung. Dieser Philosophie folgt auch das Hadassah-Spital. Jeder wird hier gleich behandelt.

Als Spezialist für Terror-Medizin kamen Sie auch im Ausland zum Einsatz. Sie behandelten zum Beispiel Opfer des Terroranschlags von Boston 2013. Welcher Methode folgen Sie bei der Notfallbehandlung?

Während der zweiten Intifada 2002 mit ihren furchtbaren Terroranschlägen entwickelten wir am Hadassah das Prinzip der «goldenen Stunde». Die Behandlung in den ersten 60 Minuten reduziert das Todesrisiko um das Dreifache. Die Patienten durchlaufen in dieser Zeit verschiedene Prozesse mit maximaler Effizienz. Die grösste Herausforderung besteht darin, die inneren Verletzungen und Blutungen nach einem Explosionstrauma schnellstmöglich unter Kontrolle zu bringen. Daneben untersuchen wir die Opfer auf mögliche Vergiftungen und Infektionen. Tatsächlich durchsetzten Terroristen bereits in der Vergangenheit ihre Bomben nicht nur mit Nägeln und Schrauben, sondern auch mit dem Rattengift Zyanid, so geschehen zum Beispiel beim Anschlag auf eine Busstation in Jerusalem 2002. Bei anderen Selbstmordattentätern wurden Hepatitis B und HIV nachgewiesen. Die Prophylaxe ist seither bei der ­Behandlung Standard. Zurzeit behandeln wir besonders Opfer von Anschlägen mit Autos oder mit Messern, verübt nicht nur von arabischen, sondern auch von jüdischen Attentätern.

Avi Rivkind spricht am 30. September zum Thema «Weshalb ich auch Terroristen behandle». Im Anschluss Podiumsdiskussion. Ort: Gemeindehaus ICZ, Lavaterstrasse 33. Türöffnung: 19 Uhr. Für unsere Leser verlosen wir 10 Eintritte. Einfach eine Mail an: gewinn@tagblattzuerich.ch. Stichwort: «Hadassah».

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Leserkommentare

Werner Maag - Vielen Dank für diesen informativen Artikel, der sich an den Fakten orientiert.
Das die Bomben 2002 mit Gift durchsetzt waren, wusste ich nicht. Helden sind solche Menschen, die Leben retten und nicht zerstören.

Vor 8 Jahren 6 Monaten  · 
Noch nicht bewertet.

Paul Russak - Das ist der israelische Normalfall, was ihn jedoch nicht weniger eindrücklich macht. Doch grenzen ihn "Israelkritiker" völlig aus. Es gibt einzelne israelische Bürger wie auch israelische Organisationen, die sich damit befassen Palästinenser zu
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Vor 8 Jahren 6 Monaten  · 
Noch nicht bewertet.