mobile Navigation

Interview

Bestrafung sei nicht per se falsch, solange sie fürs Kind nicht erniedrigend sei. Bild: Kinderschutz Schweiz

«Nur» ein Klaps auf den Po

Von: Stine Wetzel

06. November 2018

Viele Eltern wenden in der Erziehung ihrer Kinder immer noch Gewalt an – manchmal ohne sich dessen bewusst zu sein, wie eine aktuelle Studie zeigt. Kinderschutz Schweiz will das mit einer Kampagne ändern. Peter Rieker, Professor für Ausserschulische Bildung und Erziehung an der Uni Zürich, findet, dass die Gesetzgebung ranmüsste.

Peter Rieker, Professor für Ausserschulische Bildung und Erziehung an der Uni Zürich

Gemäss der Stiftung Kinderschutz Schweiz ist eine Erziehung, in der Ohrfeigen oder Gesprächsverweigerung vorkommen, per se falsch. Wie sehen Sie das?

Peter Rieker: Bei erzieherischen Aktivitäten ist entscheidend, wie sie eingebettet sind, und ihre Konsequenzen hängen beispielsweise davon ab, ob es flankierende Gespräche oder eine nachträgliche Aufarbeitung gibt. Solche Gespräche sind wichtig, damit Hintergründe und Anliegen des erzieherischen Handelns verständlich werden und Wirkung entfalten können.

Laut einer Studie der Universität Freiburg halten 25 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer den Klaps auf den Hintern für unbedenklich. Ist er das?

Der Klaps auf den Hintern hat, für sich genommen, keinen erzieherischen Wert – ganz im Gegenteil zu solchen Interventionen, die erzieherische Standpunkte verdeutlichen, begründen und dem jeweiligen Anlass angemessen sind.

Welche Folgen hat Gewalt als Erziehungsmittel für Kinder?

Falls Gewalt regelmässig über einen längeren Zeitraum Anwendung findet und nicht durch Gespräche begleitet und kompensiert wird, ist eine konflikthafte Verfestigung bestimmter Verhaltensweisen sowie eine Übertragung gewalthaltigen Verhaltens auf andere Kontexte möglich – bis hin zur späteren eigenen Kindererziehung.

Sind denn Eltern, die Gewalt in ihrer Erziehung erfahren haben, ihren Kindern gegenüber tendenziell gewaltbereiter als andere?

Es zeigen sich regelmässig entsprechende Zusammenhänge. Allerdings handelt es sich nicht um einen Automatismus.

Laut der Studie gehört Gewalt  nicht mehr zum akzeptierten Erziehungsrepertoire, sondern ist das Ergebnis von Eskalation in Belastungssituationen. Es gehe nicht um böse, sondern um überforderte Eltern. Ist das so einfach?

Die Studie zeigt zu Recht, dass es beides gibt: Eltern, die von Gewalt als Erziehungsmittel überzeugt sind, und diejenigen, die Gewalt in Überforderungssituationen anwenden, ohne überzeugt zu sein, dass es ein probates Erziehungsmittel ist.

In anderen Ländern zeigen die Zahlen, dass ein Züchtigungsverbot Signalwirkung hat. In der Schweiz wurde das Recht auf Züchtigung zwar 1978 aufgehoben – ein Verbot wurde aber auch im letzten Jahr wieder vom Nationalrat abgelehnt. Ein Skandal?

Für die Schweiz im Jahr 2018 erscheint mir diese Entscheidung ein Anachronismus zu sein – auch deswegen, weil das Interesse, die Familie vor Eingriffen von aussen zu schützen, nicht dazu beitragen darf, dass für den Umgang mit Kindern hier rechtsfreie Räume entstehen.

Eltern nehmen oft nicht wahr, dass sie Gewalt anwenden, vor allem weil psychische Gewaltformen eher diffus sind: Das fängt bei Ignorieren, Schimpfen und Drohen an, und hört bei Liebesentzug noch lange nicht auf. Wie lässt sich da Klarheit schaffen?

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der Kindheitsforschung, in der Psychologie und in der Erziehungswissenschaft viel neues Wissen darüber erworben, wie Kinder Gewalt erleben und welche Auswirkungen sie auf das spätere Leben der Betroffenen haben kann. Wenn das Wissen stärker verbreitet würde, könnte es dazu beitragen, dass sich die Einstellung gegenüber entsprechenden Verhaltensweisen ändert.

Ist Bestrafung, etwa ein Fernsehverbot, tragbar oder nicht?

Bestrafung ist nicht grundsätzlich zurückzuweisen und erscheint mir auch für die Entwicklung des Kindes nicht in jedem Fall untragbar. Strafen können eine wichtige Komponente im Rahmen erzieherischen Handelns sein, wenn sie a) dem Anlass angemessen sind und b) in erkennbarem zeitlichem Zusammenhang zum gezeigten Verhalten stehen sowie c) durch Erläuterungen, Argumente und Begründungen flankiert werden und d) im Idealfall auf diese Weise zu Verständigungsprozessen zwischen Eltern und Kindern beitragen.

Auf einem Plakat der Kinderschutz-Kampagne sitzt der fünfjährige Noah in der Küche, mitten im Chaos: überall Pasta, zerschlagene Eier, Mehl – eine Situation, in der Eltern, die wahrscheinlich noch auf dem Sprung zu einem Meeting sind, schnell schimpfen. Wie sieht hier die mustergültige gewaltfreie Reaktion aus?

Das Meeting absagen, mit Noah zusammen die noch brauchbaren Lebensmittel bergen und ein leckeres Essen zubereiten – aber: So einfach ist es nicht, da das Meeting wahrscheinlich wichtig ist, die Beteiligten angespannt sind und derjenige, der babysitten sollte, schon längst hätte da sein müssen ...

Noahs Vorschlag: «Liebes Mami, zähl doch bis zehn.» Reicht das als Handlungsalternative?

Innehalten und nicht dem ersten emotionalen Impuls, sich zu ärgern, folgen, ist ein bewährtes Mittel, angemessener zu reagieren. Darüber hinaus braucht es dann wahrscheinlich aber noch eine Analyse, wie es zu solchen Situationen kommt, und eine Strategie, wie sie in Zukunft vermieden werden können.

Weitverbreitet

Kinderschutz Schweiz hat soeben die langjährige Sensibilisierungskampagne «Starke Kinder brauchen starke Eltern» lanciert. Sie stützt sich auf eine Studie des Instituts für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg, in der rund 1500 Eltern zu ihrem Bestrafungsverhalten befragt wurden. 44 Prozent der Eltern geben an, auch mal körperliche Gewalt in der Erziehung anzuwenden, 69 Prozent schliessen psychische Gewalt nicht aus. 

www.kinderschutz.ch

zurück zu Interview

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare