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Interview

«Wichtig ist, mit dem Kind einen konstanten Dialog zu führen»: Marcel Riesen-Kupper, Leitender Oberjugendanwalt des Kantons Zürich. Bild: PD

«Sie wollen krass rüberkommen»

Von: Sacha Beuth

20. September 2022

Nicht nur legale, auch illegale Handlungen von Jugendlichen finden immer öfter online statt. Die sich daraus ergebenden Problematiken und Herausforderungen wurden letzte Woche bei der Tagung «JugA 4.0 – Lebenswelt Internet» von Schweizer Jugendstrafrechts-Experten erörtert. Laut Marcel Riesen-Kupper (63), Leitender Oberjugendanwalt des Kantons Zürich, führt einer der wichtigsten Lösungsansätze über die Eltern.

Gemäss einer Studie der ZHAW von 2020 besitzen heute 99 Prozent der Jugendlichen ab zwölf Jahren ein Handy und verbringen durchschnittlich drei bis fünf Stunden pro Tag am Smartphone. Kein Wunder, beschränkt sich auch das deliktische Verhalten von Jugendlichen längst nicht mehr alleine auf den Offline-Raum. Dies stellt nicht nur Jugendliche und ihre Eltern, sondern auch die Jugendstrafverfolgung vor pädagogische, aber auch strafrechtliche Herausforderungen. Jugendstrafrechtsexperten mehrerer Kantone diskutierten auf Einladung der Schweizerischen Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege das Thema letzte Woche an der durch die Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürichs organisierten Tagung «JugA 4.0 – Lebenswelt Internet». Das «Tagblatt» befragte dazu den Gastgeber und Leitenden Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse, die aus «JugA 4.0 – Lebenswelt Internet» gewonnen wurden?

Marcel Riesen-Kupper: Die generelle Erkenntnis, wie stark die digitale Entwicklung das alltägliche Leben von uns allen, aber insbesondere von Jugendlichen prägt. Und welchen Einfluss dies wiederum auf den Umgang der Jugendlichen untereinander, aber speziell auf deren deliktisches Verhalten und damit unsere Arbeit als Strafverfolgungsbehörde hat. Ein grosser Vorteil war dabei zudem, dass durch den intensiven Austausch und die verschiedenen Workshops sowohl Grundsätzliches wie «Welche Apps verwenden Jugendliche, um sich auszutauschen und wie funktionieren diese?» als auch Spezifisches wie «Welchen Einfluss hat die technologische Entwicklung auf die Untersuchungsführung?» behandelt werden konnte.

Welche Online-Delikte werden hauptsächlich von Jugendlichen begangen und was sind die Ursachen dafür?

Das wurde zwar an der Tagung nicht explizit besprochen, aber es handelt sich vielfach um den Besitz, das Herstellen und Verbreiten von Pornografie sowie Bestellungen beziehungsweise die Einfuhr von illegalen Artikeln wie etwa Waffen. Zu Ersteren ein paar Zahlen aus dem Kanton Zürich, vorweg die positiven: In Sachen Pornografie als Tatbestand unter Jugendlichen gab es zum zweiten Mal hintereinander einen Rückgang zu verzeichnen. Auch die Fälle, in denen Mädchen – meist auf Drängen von Freunden – Nacktaufnahmen von sich ins Netz stellen, haben tendenziell leicht abgenommen. Andererseits werden die Jugendlichen, die sich bei sexuellen Handlungen filmen, immer jünger. Betrug deren Durchschnittsalter 2020 noch 15 Jahre, waren es letztes Jahr nur noch 13,9 Jahre. Und nun sind es statt der Mädchen häufig Knaben, die Bilder und Videos von sich mit sexuellen Handlungen an sich selbst oder zu zweit ins Netz stellen. In der Regel erfolgt dies ohne Druck von aussen. Die Motivation ist eher, dass man zeigen will, dass man sexuell aktiv ist.

Ist den Jugendlichen überhaupt bewusst, dass sie bei den genannten Delikten eine Straftat begehen?

Das ist schwierig zu beantworten. Bei Waffenbestellungen würde ich sagen: Teilweise. Manchmal wissen die Jugendlichen nicht so genau, was genau verboten ist, und lassen es darauf ankommen. Bei der Pornografie hingegen dürfte – nicht zuletzt dank der Präventionskampagnen von verschiedenen Experten an Schulen – bekannt sein, welche Handlungen strafbar sind. Manche Jugendliche lassen sich trotzdem dazu hinreissen, weil sie cool sein und krass rüberkommen wollen. Gerade in der Pubertät handelt man gerne mal zu schnell und überlegt sich nicht allzu viel.

Haben bei Jugendlichen Delikte im Online-Bereich auch Einfluss auf Delikte in der analogen Welt?

Ja, zum Beispiel auf die Tatbegehung. Bevor jeder ein Handy hatte, trug man handgreifliche Auseinandersetzungen in der Regel zu zweit oder in kleinen Gruppen aus. Heute werden in manchen Streitfällen von jeder Seite übers Smartphone möglichst viele Freunde mobilisiert und der Zwist führt dann zu grösseren Gruppenbildungen. Es gibt aber zu unserem Erstaunen auch anachronistische Verschiebungen bei den Delikten von Jugendlichen. So ist etwa der Anteil digitaler Ehrverletzungen – Beschimpfung, Verleumdung oder üble Nachrede – mit Jugendlichen als Täter trotz steigenden Fallzahlen von 50 Prozent im Jahr 2015 auf 20 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Über die Gründe hierfür liegen allerdings keine Angaben vor.

Muss wegen der Entwicklungen das Jugendstrafrecht gegebenenfalls angepasst werden?

Es ist zwar richtig, sich darüber grundsätzlich Gedanken zu machen. Gegenwärtig sehe ich aber keinen direkten Handlungsbedarf für eine Änderung des Jugendstrafgesetzes.

Vorbeugen ist bekanntlich besser als Heilen. Was sind bezüglich deliktischem Verhalten von Jugendlichen die wichtigsten Präventionsmassnahmen?

Das Schlüsselwort für den Online-Bereich ist Medienkompetenz. Jugendliche müssen so unterrichtet und erzogen werden, dass sie mit dieser Flut von Möglichkeiten, welche die digitale Technik bietet, umgehen und Gefahren erkennen können. Es reicht nicht, wenn diese Aufgabe nur an die Behörden delegiert wird. Auch Eltern müssen hierbei ihre Verantwortung wahrnehmen. Etwa indem sie ihr Kind nicht einfach am Smartphone sich selbst überlassen, sondern sich dafür interessieren, mit wem es Kontakt hat, mit wem es chattet, welche Filme es sich anschaut und auf welchen Seiten es surft. Wichtig ist, einen konstanten Dialog zu führen und auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Das Kind muss beispielsweise wissen, dass es sich strafbar macht, wenn es Bilder von sexuellen Handlungen mit Kindern oder Tieren oder in Verbindung mit Gewalt speichert oder weiterverbreitet. Und dass es sich nicht unter Druck setzen lassen sollte, Nacktaufnahmen von sich ins Netz zu stellen. Denn diese bleiben ein Leben lang online.

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