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Interview

Eveline Winnewisser (61) ist Stellenleiterin der Suchtpräventionsstelle. Bild: PD

"Tobias B. löste einen Schock aus"

Von: Jan Strobel

19. Mai 2015

30 Jahre Suchtpräventionsstelle: Stellenleiterin Eveline Winnewisser blickt zurück auf die Zürcher Drogengeschichte und die Rolle der Prävention darin.

Tagblatt der Stadt Zürich: Eveline Winnewisser, versetzen wir uns zurück ins Jahr 1985. Wie sah die Situation in der Zürcher Drogenszene damals aus?

Eveline Winnewisser: Zürich befand sich in einer äusserst schwierigen Situation. Noch immer suchte die Stadt nach einer Strategie, um mit den Folgen der Jugendunruhen umzugehen. 1982 hatte man das AJZ abgerissen. Gingen dort anfangs Junge ein und aus, lähmten zunehmend Alkoholiker den Betrieb. Der Grund war der günstige Alkohol im AJZ. Dann begann die Heroin-Szene zu dominieren. Nach der Räumung konnte die Öffentlichkeit das Drogenproblem nicht länger verdrängen, und erst recht nicht mehr, als sich die Szene 1986 auf dem Platzspitz festsetzte. Die politischen Prozesse hinkten dieser dramatischen Entwicklung immer hinterher. Erst das Elend auf dem Letten beschleunigte diese so richtig, was 1995 zu dessen Räumung führte.

Ging die Gründung der Suchtpräventionsstelle also auf das AJZ zurück?

Nicht direkt. Im AJZ engagierten sich bereits Leute von der Jugend- und Gassenarbeit. Unter ihnen wuchs aber das Bewusstsein, dass es eine Stelle braucht, die sich mit Ursachen befasst, die zum Drogenkonsum führen können. Es war die Zeit, als der Film über Christiane F. für erste breitere Diskussionen sorgte, gerade unter Jugendlichen. Man wollte verstehen, warum jemand in die Drogensucht abrutscht, was die Hintergründe sind, dass jemand zum Junkie wird. Aus diesem Denken ist die Suchtpräventionsstelle entstanden.

Was bedeutete Prävention damals? Der Begriff war ja noch relativ neu.

Für uns war klar: In die Sucht abgleiten kann jeder. Dieses Verständnis versuchten wir zu vermitteln – gerade auch bei Lehrpersonen und Schülern. Dieser Haltung  sind wir über die letzten 30 Jahre hinweg treu geblieben. Dabei war es uns von Beginn an wichtig, nicht mit dem Mahnfinger in die Schulen zu kommen oder mit abschreckenden Kampagnen unser Ziel zu erreichen. Die Erfahrungen hatten gezeigt, dass die «harte Schiene» bei der Prävention keinen Erfolg zeitigte.

Ende der 80er Jahre verfolgten Gemeinderäte der SVP und der Nationalen Aktion (Anm. d. Red.: die heutige SD) genau diese «harte Schiene».  Sie forderten geschlossene Drogenkliniken, den zwangsweisen Drogenentzug, verbunden mit einem fürsorgerischen Freiheitsentzug. Wie ging die noch junge Suchtpräventionsstelle mit diesen ideologischen Kampfansagen um?

Solche Weltbilder aufzubrechen war natürlich etwas vom schwierigsten. Die Gegner meinten illegale Drogen und wollten nicht wahrhaben, dass man auch durch Alkohol oder Nikotin in eine Sucht abrutschen kann. Thematisierten wir aber etwa den Alkohol, stellte man uns in die Ecke der genussfeindlichen Abstinenzler.

1989 sorgte die Kampagne «Sucht hat viele Ursachen» für Furore. Das Plakat erzählte in zwei Sätzen diese Geschichte: «Tobias B., 19, Fixer. Mit 6 wollte er Goalie werden»...

...Tobias B. löste einen Schock aus, besonders bei Eltern. Sie wurden sich bewusst, wie sehr die Sucht im Alltag beginnt, wie sie Lebensträume zerstört.

Wenn Sie heute auf diese 30 Jahre Suchtprävention zurückblicken; welche Bilanz ziehen Sie?

Es ist uns gelungen, das Verständnis für süchtiges Verhalten zu verbessern. Ideologische Diskussionen wie vor 20 oder 30 Jahren gibt es heute kaum noch. Wenn diskutiert wird dann in der Regel offener und auch kompetenter. Mit unseren Kampagnen, den Schulungen, Beratungen und Veranstaltungen konnten wir während der letzten Jahrzehnte bereits annähernd eine ganze Generation von Stadtzürchern erreichen. Aber natürlich ist das Thema Sucht nach wie vor aktuell. Heroin spielt heute zwar keine grosse Rolle mehr, was ein enormer Erfolg ist,  ins Zentrum unserer Arbeit gerückt sind dafür Alkohol, Cannabis, Nikotin und auch Partydrogen.

Für viele Jugendliche und junge Erwachsene sind der Platzspitz oder der Letten bereits historische Ereignisse, an die sie keine Erinnerung mehr haben. Bei manchen gehören Drogen zum Lebensstil am Wochenende selbstverständlich dazu. Vor der Party genehmigen sie sich eine Linie Kokain, gewissermassen zum «Apéritif», um später auf MDMA durch die Nacht zu tanzen. Hat da die Prävention nicht versagt?   

Nein. Wir haben erreicht, dass Zürcher Jugendliche heute sensibel mit dem Thema Drogenkonsum umgehen, vielleicht auch, weil sie die Geschichte der offenen Drogenszene zumindest noch vom Hörensagen kennen. Man muss aber auch sehen: Gerade die 18- bis 30-Jährigen sind für uns am Schwierigsten zu erreichen. Sie befinden sich in einer Lebensphase, in der das Lustprinzip ein mächtiger Antrieb ist. Jugendliche legen natürlicherweise ein riskanteres Verhalten an den Tag. Das ist auch wichtig für ihre Weiterentwicklung. Sie wollen ihren Weg selber erkunden, und je verbotener etwas ist, umso eher möchten sie es ausprobieren. Tendenziell riskanter kann es dabei werden, wenn sie Sinnkrisen aus der Adoleszenz mit ins frühe Erwachsenenalter nehmen.

Müsste das Ziel jeder Suchtprävention aber nicht das Ende der Sucht sein? Oder ist das eine Illusion?

Sucht ist das Endstadium eines Prozesses. Eine Illusion wäre, wenn man meint, dass man diesen Prozess, einfach umkehren könne. Zudem reizt der Rausch den Menschen seit jeher. Er treibt ihn an und um. Doch das Universum des Rausches ist nicht endlos - und der  vermeintliche Traum entpuppt sich mitunter als Albtraum. Damit er das nicht wird, dafür sind wir da.

Zu ihrem 30-Jahr-Jubiläum organisiert die Suchtpräventionsstelle verschiedene öffentliche Anlässe. Der kostenlose Stadtrundgang «Von der Riviera zum Letten» führt die Besucher an die Schauplätze von Zürichs Drogengeschichte. (nächster Rundgang: Donnerstag, 11. Juni, 18 bis 20 Uhr. Treffpunkt: Tramhaltestelle Helmhaus). Die Podiumsdiskussion «Der Reiz des Rausches» im Völkerkundemuseum wiederum beleuchtet am 18. Juni unseren Umgang mit Sucht und Rausch über die Kulturen hinweg. Beginn: 19 Uhr. Eintritt frei.

www.stadt-zuerich.ch/suchtpraevention

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