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Lifestyle

Die Familienidylle ist am Ende des ersten Weihnachtstages zurückgekehrt und lässt Patrick, Cyril, Sarah und Kathrin zufrieden einschlafen. Bild: Adobe Stock

Endlich Stille Nacht

Von: Sacha Beuth

21. Dezember 2021

Einst war für Patrick Weihnachten das schönste aller Feste. Doch in den letzten Jahren entwickelte sich dieses zu einem Anlass, der regelmässig Streit innerhalb der Familie mit sich zog. Und auch heuer standen die Vorzeichen wieder auf Sturm, denn die Nervenkostüme aller lagen bald blank.

 

Eine Weihnachtsgeschichte von Sacha Beuth

Patrick mochte «Jingle Bells». Und «Last Christmas» von Wham sowieso, war er doch damit gross geworden. Trotzdem war sein liebstes Weihnachtslied «Stille Nacht, heilige Nacht». Für den 36-jährigen Familienvater war es das Stück, welches den Sinn von Weihnachten am besten zur Geltung brachte: Besinnlichkeit und Ruhe, gepaart mit Liebe und Verständnis. Drei musikalische Minuten, die einen die wahre Bedeutung von Weihnachten bewusst werden lassen.

Nur leider war es mit besinnlichen Weihnachten schon ein Weilchen her. Damals, als die Kinder Sarah und Cyril noch klein waren, da hatte es sie noch gegeben. Patrick erinnerte sich gut, wie sie mit glänzenden Augen den geschmückten Christbaum betrachteten, wenig textgetreu, aber voller Inbrunst die Weihnachtslieder mitsangen und sich mit einer festen Umarmung und einem feuchten Schmatzer für die Geschenke bedankten. Wie die Schwiegereltern Elisabeth und Jürg noch nicht so festgefahren in ihren Ansichten waren. Und wie sich Patrick und seine Frau Kathrin noch mit Kleinigkeiten überraschen und sich daran erfreuen konnten.

Inzwischen hatte sich vieles verändert. Und die Vorzeichen für die diesjährige Weihnachtsfeier standen erneut schlecht. Es begann schon am Morgen des Heiligabends. Wie es in seiner Familie seit eh und je Tradition war, wurde erst an diesem Tag der Christbaum geschmückt. Eine Aufgabe, die lange Kathrin – anfangs allein, dann zusammen mit den Kindern – übernommen hatte. Nun sollten es Sarah und Cyril erstmals ohne elterliche Hilfe bewerkstelligen. Ein knapp 12-jähriges Mädchen, das bereits heftig von der Pubertät erfasst worden war, alles besser als seine Eltern wusste (und als ihr Bruder sowieso), an schulfreien Tagen möglichst lang im Bett blieb und sich den Rest des Tages mit ihrem Handy im Zimmer verbarrikadierte. Und ein 9-jähriger Junge, der sich schon immer so gut wie möglich von jeglicher Hilfe im Haushalt gedrückt hatte, seine Schwester eine Zicke fand und in der Regel zwischen einer unglaublichen Unordnung mit Playmobil spielte. Eigentlich hätte es Patrick und Kathrin von Anfang an klar sein müssen, dass diese Mischung zu explosiv für die Aufgabe war. Zumal das Nervenkostüm des Nachwuchses infolge des «Jahresschlussspurts» in der Schule ohnehin angespannt war.

Streit um die Goldkugel

Jedenfalls kam es, wie es kommen musste. Die beiden Kinder hatten kaum mit dem Schmücken begonnen, da rief Cyril empört: «Heh, die goldene Kugel will ich anbringen. Ich habe gerade extra die Klammer dafür zurechtgebogen». «Diese Kugel kommt immer ganz nach oben. Da kommst du gar nicht hin, dafür bist du noch zu klein», entgegnete Sarah mit unverhohlener Häme in der Stimme. «Doch das kann ich. Und jetzt gib mir die Kugel!», forderte Cyril, während er danach griff. – «Nein!» – «Gib sie her!» – Inzwischen waren nicht nur ihre Stimmen schrill geworden, sondern Cyril war es auch gelungen, die Hand seiner Schwester, in der sich die Kugel befand, zu umklammern. Es folgte ein verbissenes Ringen. Natürlich entglitt den beiden die Kugel. Und natürlich fiel sie zu Boden, wo sie in tausend Stücke zersprang. «Was, um Himmels willen, habt ihr euch dabei gedacht?! Das war meine Lieblingskugel. Die kann man nicht mehr ersetzen, weil sie nicht mehr hergestellt wird. An ihr habe ich besonders gehangen, weil sie mir meine Grossmutter vererbt hatte», rief Kathrin in einer Mischung aus Entsetzen, Trauer und Zorn. «Jetzt reichts! Ihr geht jetzt sofort in eure Zimmer!», bestimmte Patrick nicht eben leise.

Derweil sich die Kinder trollten, griff Kathrin in die Kisten mit der Deko, um das Schmücken des Baumes fortzusetzen. Ihren stummen Blick um Mithilfe in Richtung Patrick wurde von diesem ignoriert. Einerseits, weil er immer noch verstimmt über ihre Reaktion war, als er die Tanne in ihre Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses im Kreis 6 gebracht hatte. «Der hat unten aber viele offene Stellen. Und gross ist er auch nicht gerade.» Andererseits war er ja heute schon beschäftigt mit der Zubereitung des Festtagsmenüs. Auf vielfachen Wunsch sollte es einen Rinderbraten geben. Patrick zog sich also in die Küche zurück. Er war eben mit dem Rüsten des Gemüses und dem Präparieren des Bratens fertig geworden, als es an der Tür klingelte. Das werden doch nicht schon Elisabeth und Jürg sein, durchfuhr es Patrick. Eine ganze Stunde zu früh? Er schob noch schnell den Braten in den Backofen und öffnete. «Hallo ihr Lieben, fröhliche Weihnachten. Wir sind etwas früher gekommen. Ich hoffe, das ist kein Problem für euch. Wir fahren ja nicht oft mit dem ÖV und hatten Mühe, die Ankunftszeit richtig einzuschätzen», entschuldigte sich Kathrins Mutter und drückte Schwiegersohn, Tochter und Enkeln einen Schmatzer auf. Hinter Elisabeth schob sich ihr Mann Jürg durch die Tür. Er begrüsste seinen Schwiegersohn mit einem festen Händedruck, murmelte etwas, das wie «Wünsche dir frohe Festtage» klang, und liess dann sogleich das altbekannte Lamento folgen. «Mit dem Auto wäre uns das nicht passiert. Hätte es nur genügend Parkplätze. Aber ihr in der Stadt wollt es ja nicht anders. Wählt nur schön weiter Links-Grün.»

Patrick verzichtete auf eine Entgegnung und bat stattdessen seine Schwiegereltern, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Elisabeth hatte jedoch bemerkt, dass der Christbaum noch nicht fertig geschmückt war, und beschloss darum, lieber ihrer Tochter zu helfen. Und sie mit Geschichten aus ihrem Bekanntenkreis in Beschlag zu nehmen. Geschichten, die Kathrin notabene nicht die Spur interessierten und sie öfter einmal heimlich die Augen verdrehen liess. Jürg hingegen macht es sich bequem, liess sich von Patrick ein Glas Rotwein einschenken und brachte als Gesprächsthema den Vergleich von Benzinern und Elektroautos auf den Tisch. Schon öfter waren sich Jürg und Patrick, der sich erst kürzlich ein E-Fahrzeug zugelegt hatte, deswegen in den Haaren gelegen. Und auch jetzt entspann sich eine angeregte Diskussion, bei der Jürg nichts unterliess, um die «neumodischen Chilbi-Autos» kleinzureden, und die Patrick alles vergessen liessen. Bis Elisabeth fragte: «Sagt mal, wann wollen wir eigentlich zu Abend essen?» Patrick schoss auf, eilte zum Backofen und konnte nur mit Mühe einen Fluch unterdrücken. Statt auf Niedriggaren hatte er den Backofen auf die heissere Grill-Stufe gestellt. Zwar war das Fleischstück nicht verbrannt, aber – wie sich beim Festmahl zeigen sollte – zäh wie Schuhsohle. Und als hätte Patrick nicht schon Ärger genug, setzte Elisabeth die Krone auf, indem sie sagte: «Nudeln zum Braten? Normalerweise essen wir in unserer Familie traditionell Kartoffelstock dazu. Hättest du was gesagt, ich hätte ihn machen können.»

Das doppelte Spielzeugauto

Fiel die kulinarische Bescherung schon nicht zufriedenstellend aus, so sollte wenigstens das Überreichen der Weihnachtsgeschenke für Festtagsstimmung sorgen. Leider gab es aber auch hier lange Gesichter und sogar Tränen. Erst hatten die üblichen selbstgebastelten Kärtchen und Kerzen sowie die selbstgebrannten Mandeln der Kinder für ihre Eltern und Grosseltern ehrliche Freude ausgelöst. Doch als Cyril das Geschenk der Grosseltern, ein Polizeiauto von Playmobil, präsentierte, fiel Kathrin die Kinnlade runter. «Wir hatten doch abgemacht, dass ihr das Feuerwehrauto schenkt und wir das Polizeiauto», sagte sie leise, aber genervt in Richtung ihrer Eltern. «Oh wirklich, tut mir leid, das muss ich verwechselt haben», druckste Elisabeth verlegen. Das änderte jedoch nichts am enttäuschten Gesicht, das Cyril machte, als er das Geschenk seiner Eltern auspackte und statt des erwarteten roten erneut ein blaues Spielzeug zum Vorschein kam. Den Höhepunkt erreichte das Trauerspiel jedoch, als Sarah das Präsent ihrer Eltern aus dem Packpapier wickelte. Im ersten Moment war die Freude gross: «So toll, das neue Handy, das ich mir gewünscht habe!» Sie strahlte vor Glück wie Patrick, der nach stundenlangem Suchen in den Läden und im Internet noch ein Exemplar hatte auftreiben können. Dann aber bemerkte sie: «Das ist ja die Standard- und nicht die Deluxe-Variante. Die hat nicht einmal halb so viel Speicherkapazität. Damit kann ich unmöglich meine Filme machen.» Heulend verliess sie das Wohnzimmer und verzichtete hernach sogar auf das Dessert. Dieses wurde von den übrigen Familienmitgliedern in gedrückter Stimmung verzehrt und als Elisabeth und Jürg Patrick baten, sie angesichts der vorgerückten Stunde nach Hause zu fahren, kam Letzterem der Wunsch fast einer Erlösung gleich.

Als er nach einer knappen Stunde wieder zu Hause eintraf, hatte Kathrin das Sofa ausgezogen, die Bettdecke darauf ausgebreitet, die Playlist mit den Weihnachtsliedern aktiviert und wartete mit einem Glas Rotwein und einem kleinen Päckchen auf ihn. «Es tut mir leid, dass ich wegen des Baumes so reagiert habe. Ich hoffe, ich kann es hiermit wieder gutmachen.» Patricks Stimmung besserte sich und wurde noch besser, als er das Geschenk ausgepackt hatte. «Ein Stirnband vom FC Bayern München. Das ist genial. Danke, danke vielmals», sagte er gerührt. Wie oft hatte er darüber geklagt, dass seine Ohren immer ganz kalt und rot waren, wenn er im Winter die Partien seines Lieblingsvereins besuchte. Und sie hatte daran gedacht und das Problem gelöst.

Ein zärtlicher Kuss

Patrick griff unter das Sofa und holte ebenfalls ein Päckchen hervor. «Mir tut es ebenfalls leid, dass ich dir beim Schmücken nicht geholfen haben. Hier ist meine Wiedergutmachung.» Kaum hatte Kathrin ihr Geschenk ausgepackt, stiess sie einen Freudenschrei aus. «Mein Lieblingsgürtel mit reparierter Schnalle und neuem Leder. Was für eine gelungene Überraschung. Und da heisst es immer, Männer hören nie zu», witzelte sie und gab ihrem Mann einen Kuss, in dem so viel Zärtlichkeit lag, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die traute Zweisamkeit wurde jäh durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. «Wir sinds noch einmal», hörte man Elisabeth vom anderen Ende der Leitung sagen, als Patrick abhob. «Wir wollten uns bei euch bedanken und gleichzeitig entschuldigen. Nudeln passen genauso gut zum Braten wie Stock. Und ich finde deine Bratensauce übrigens viel besser als meine. Und Jürg lässt dir ausrichten, dass ihm gefallen hat, wie leise dein E-Auto fährt. Tschüss und geniesst noch den Rest des Abends.»

Der schien doch noch einen angenehmen Ausgang zu nehmen. Umso mehr, als nun Sarah und Cyril mit schuldbewussten Mienen aufkreuzten und zu ihren Eltern unter die Decke krochen. «Mami, zwei Polizeiautos sind eigentlich viel besser als eines. Dann kann eines die Verbrecher jagen und das andere versperrt die Strasse», begann Cyril und drückte sich an seine Mutter. Derweil kuschelte sich Sarah an ihren Vater und erklärte: «Es tut mir leid, dass ich mich so benommen habe. Ausserdem schneide ich die Filme ohnehin lieber am Compi. Die Standard-Version hat ja ebenfalls eine gute Kamera, das ist die Hauptsache.» Zufrieden lauschten die vier noch eine Weile den weihnachtlichen Klängen aus den Radioboxen, dann fiel einem um den anderem die Augen zu. Zuletzt Patrick, der im Dahinschlummern noch die ersten Takte von «Stille Nacht, heilige Nacht» vernahm, die ihm ein glückseliges Lächeln auf das Gesicht zauberten.

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