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Lifestyle

Fakten werden zu Fiktionen

Von: Isabella Seemann

20. Juni 2016

NEUE ZÜRCHER BÜCHER: Hochspannung garantiert: Für einen langen Lesesommer stellt das «Tagblatt» Romane vor, die nahe an der Wirklichkeit sind.

Andrea Fischer Schulthess: «Motel Terminal», Salis Verlag, März 2016, 34.95 Franken.

Bislang war die Zürcherin Andrea Fischer Schulthess bekannt als kinder- und familienfreundliche Autorin: Die Mutter zweier Kinder bloggt für den «Mamablog» auf Tages-Anzeiger Online, schrieb den Erziehungsratgeber «Das ganz normale Familienchaos» und beglückt Kinder scharenweise mit ihrem Minitheater Hannibal. Nun hat sie – berührt von tatsächlichen Fällen, in denen Eltern ihre Kinder gefangen hielten – einen Romanerstling vorgelegt, mit dem sie in die Abgründe der Mutterliebe dringt. Nora, die Hauptfigur des Dramas, ist eine attraktive 30-Jährige, die mit ihrem Mann ein luxuriöses Leben in Zürich führt. Von ihren vielen Geheimnissen ist noch keines an die Oberfläche gelangt. So besucht sie heimlich, wann immer ihr Mann auf der Arbeit und auf Geschäftsreisen ist, ihre Tochter Meret, die sie seit bald 13 Jahren in einem heruntergekommenen Haus in der Agglo eingesperrt hält, um sie vor allem Bösen «da draussen» zu bewahren. Als Nico, der Sohn einer illegalen Rumänin, den es ebenfalls «gar nicht gibt», in dem Haus auftaucht, droht das ganze Lügengebilde zusammenzukrachen. Unaufhaltsam rückt die Katastrophe näher. Man könnte von einem Psychothriller sprechen, so spannend ist die Geschichte erzählt, aber vielmehr ist es ein meisterlich gelungener Roman, der die seelischen Verwerfungen zum Thema hat, der die Familie als Hort von Grausamkeit und Einsamkeit bloss legt.

James Douglas: «Tote leben länger», Langen-Müller Verlag, Feb. 2016, 25.90 Franken.

Das behäbige Bern ist Ziel eines Terroranschlags: Unter «Allahu Akbar»-Rufen und «Nieder mit den Zionisten» erschiessen Islamisten eine israelische Ministerin, die im Hotel Bellevue einen Vortrag vor Parlamentariern und Beamten hält. Rasant steigt der 74-jährige Zürcher Wirtschaftsanwalt und Autor Ulrich Kohli, der unter dem Pseudonym James Douglas schreibt, in seinen 13. Politthriller ein. Eine berüchtigte islamische Terrormiliz hat als Flüchtlinge getarnte Terroristen ins Tessin eingeschleust, die ihre Opfer köpfen, Banken plündern und Unternehmen brandschatzen. Ein Waffeningenieur, dessen Firma bei der Entwicklung von Roboter-Waffen führend ist, wird erpresst, seine Tochter entführt. Der ehemalige FBI-Agent Ken Cooper, der nun zusammen mit seinem Sohn Michael eine Sicherheitsfirma in Zürich führt, nimmt Ermittlungen auf. Wie die Thrillerkollegen John Grisham und Frederick Forsyth lässt sich James Douglas für seine Plots von seinen Kontakten zu Geheimagenten und dem FBI inspirieren und verwebt das aktuelle Zeitgeschehen rund um den Globus mit einem Hauch Lokalkolorit. In der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» wurde die Lektüre von Douglas’ Büchern einst empfohlen «für Menschen im Tätigkeitsbereich von Terrorabwehr und Personenschutz», so realitätsnah sind sie. 

 

Anita Siegfried: «Steigende Pegel», Bilger Verlag, März 2016, 32 Franken. 

Als am 1. Juni  das Gotthard-Basistunnel eröffnet wurde, fand eines der baulichen Jahrhundertwerke der Schweiz seine Vollendung. Doch rund 110 Jahre zuvor trat ein Bündner Ingenieur bereits mit dem nicht minder ambitionierten Projekt «Via d’aqua transalpina» an die Öffentlichkeit: Pietro Caminada (1862–1923) aus Val Lumnezia wollte das Mittelmeer und die Nordsee verbinden – mit einem Schiffskanal über die Alpen, eine viele hundert Kilometer lange Wasserstrasse, die von Genua über den Splügenpass, den Bodensee bis nach Basel und von dort über den Rhein nordwärts führt. Caminada konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken: Als junger Mann nach Südamerika ausgewandert, hatte er das Hafenbecken von Rio de Janeiro neugestaltet und die Stadt zu einer modernen Metropole gemacht. Am 3. Januar 1908 empfing ihn König Vittorio Emanuele III. von Italien zu einer Audienz, um sich das «Riesenprojekt» erörtern zu lassen. «Wenn ich schon längst vergessen sein werde», schwärmte der Monarch nach der Präsentation, «wird man immer noch von Ihnen reden.» Doch dann brach der Erste Weltkrieg aus, das Geld ging flöten und der Kanal geriet in Vergessenheit. Die Zürcher Archäologin Anita Siegfried verleiht der Idee in «Steigende Pegel» nun ein Leben in der Literatur: Anhand präziser Recherchen erzählt sie die Geschichte des «Fitzcarraldo der Alpen» und verwebt sie mit der Fiktion des Kanalbaus. Ein unheimlich packender Roman über Genie, Hybris und Scheitern eines Mannes, der Unvorstellbares verwirklichen wollte. 

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