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Javier Gutiérrez steckte sich vor 32 Jahren mit HIV an. Heute ist das Virus bei ihm nicht mehr nachweisbar.

Den Kampf gewonnen

Von: Ginger Hebel

08. Januar 2019

Javier Gutiérrez gehört zu den ersten HIV-Infizierten der Schweiz. Die Diagnose war in den Achtzigerjahren ein fast sicheres Todesurteil. Heute, 32 Jahre später, hat er den Kampf gewonnen und lebt ein fast normales Leben.

Javier Gutiérrez sitzt in einem Café in Oerlikon und trinkt eine heisse Schokolade. Dass er einmal 59 Jahre alt werden würde, und wohl auch seinen Sechzigsten erleben wird, damit hätte er nicht gerechnet, schon gar nicht die Ärzte.

Er war Anfang zwanzig, als er sich mit HIV ansteckte. Durch wen und wann genau, das weiss er nicht, und er will es auch nicht wissen. Es würde nichts an seiner Situation ändern. «Es passierte beim Sex mit einem Mann», sagt er dann. Wahrscheinlich wusste diese Person damals selber nicht, dass sie HIV-positiv ist. Gutiérrez wurde im Norden Spaniens, in Kantabrien, geboren. Als achtjähriger Junge zog er mit seiner Familie nach Madrid. Er machte eine Lehre zum Laboranten, «doch die Wirtschaftskrise damals liess keine Zukunftspläne zu», erzählt er.

Mit 21 Jahren liess er Spanien hinter sich und zog nach Zürich. Er ging putzen, jobbte in Restaurantküchen, arbeitete im Service und auf dem Bau. Durch seine Jobs im Gastgewerbe lernte er Deutsch, und durch seine Frau, eine Appenzellerin, fliessend Mundart. Die Ehe hielt zwar nur drei Jahre, doch noch heute pflegen die beiden einen guten Kontakt.

Wie die moderne Lepra

Die wilden Achtziger erlebte er als grosse Freiheit. Er verkehrte in Clubs wie dem legendären Bazillus, «das war eine aufregende Zeit». Er hatte wechselnde Partner, Frauen wie Männer. Er probierte sich aus. In den Medien kursierten damals erste Berichte über eine mysteriöse Krankheit bei schwulen Männern aus den USA, die man Aids nannte. Schon bald wurden auch in Deutschland und der Schweiz erste Fälle bekannt. Als er sich mit einer Dermatitis im Spital behandeln liess, konfrontierte ihn der Arzt mit der Diagnose HIV-positiv. «Ich wusste nicht, was das für mich bedeutet. Das Schlimmste aber war, dass auch die Ärzte wenig Ahnung hatten.» Fakt war: Wer Aidssymptome hatte, starb oft schon wenige Monate später.

Die Ärzte gaben ihm noch drei Monate, vielleicht ein Jahr. Höchstens. «Das war ein Schock, ein Trauma, das mich bis heute begleitet.» Jeder fürchtete sich vor der unheimlichen Krankheit. Die Leute warfen aus Angst das Besteck weg, welches HIV-Betroffene benutzten. «Es war wie die moderne Lepra, man fühlte sich ausgegrenzt», erzählt Javier Gutiérrez. Er weihte seine Ex-Frau und seine Schwester ein, ansonsten redete er anfänglich mit niemandem darüber. Seine Mutter weiss bis heute nichts von seiner Krankheit. «Sie hätte sehr gelitten, das wollte ich vermeiden.»

Mit AZT wurde 1987 erstmals ein vielversprechendes Medikament zugelassen, welches die Vermehrung von HIV im Körper stoppen und somit das Leben verlängern konnte. Unter dem Handelsnamen Retrovir kam das bis anhin teuerste verschreibungspflichtige Medikament auf den Markt. Weil es exakt alle vier Stunden eingenommen werden musste, lieferte der Hersteller einen Wecker mit. «Das waren Monsterpillen mit verheerenden Nebenwirkungen, ich wollte sie nicht schlucken», erzählt Gutiérrez. Betroffene litten unter Erbrechen, Schüttelfrost und hohem Fieber, hinzu kam eine Fettverteilstörung, welche unter anderem zu einem Abbau des Fettgewebes im Gesicht führte.

Die Zeit war seine einzige Chance. Die Aidsforschung gab Vollgas, neue, hochwirksame Medikamente kamen auf den Markt. Während er früher 24 Tabletten am Tag schluckte, ist es heute gerade mal eine. HIV-Betroffene können zwar noch immer nicht geheilt, mittlerweile aber gut behandelt werden. «Viele denken, HIV sei nicht mehr so schlimm, weil es gute Medikamente gibt. Doch jedes Medikament hat Nebenwirkungen, das wird unterschätzt.»

Immer noch diskriminiert

Noch heute kämpfen Betroffene mit sozialer Isolation und Vorurteilen. Gemäss den neusten Zahlen der Aids-Hilfe Schweiz gab es letztes Jahr 122 gemeldete Diskriminierungsfälle, vor allem in den Bereichen Sozialversicherungen und Gesundheitswesen, so viele wie noch nie seit der Erfassung im Jahr 2006. Javier Gutiérrez raucht nicht mehr, ernährt sich gesund und praktiziert Qigong für die innere Ruhe. «Meinem angeschlagenen Nervensystem hilft das sehr.» Auch den Kampf gegen den Lymphdrüsen-Krebs hat er gewonnen. Er schreibt Gedichte, die er unter Gedichteregen.blogspot.ch veröffentlicht.

Seit 12 Jahren lebt er mit seiner Partnerin zusammen und führt ein fast normales Leben. Das HI-Virus ist in seinem Blut nicht mehr nachweisbar. «HIV ist heute eine chronische Krankheit wie Diabetes. Man kann damit leben, aber es ist kein Spass.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

Die Zürcher Aids-Hilfe (ZAH) heisst neu Verein Sexuelle Gesundheit Zürich – Fachstelle für sexuelle Gesundheit, SeGZ. Sie bleibt die erste Anlaufstelle im Kanton Zürich zu Themen sexueller Gesundheit. www.zah.ch

 

 

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