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Der Stadtzürcher Schulvorsteher Filippo Leutenegger am 1. Schultag des Schuljahres 2019 / 20 zu Besuch in der Schule Pfingstweid im Kreis 5. Bild: Schulamt

"Die Schule kann natürlich nicht alles richten"

Von: Ginger Hebel

17. August 2021

Schulstart: Am Montag beginnt in der Stadt Zürich das neue Schuljahr. Stadtrat Filippo Leutenegger, Vorsteher des Schul- und Sportdepartements, spricht über Unterricht während der Pandemie, hohe Elternansprüche und Schülerinnen und Schüler unter Druck. Und er sagt, was sich im Schulwesen ändern sollte. 

Am kommenden Montag startet für 35 130 Mädchen und Buben das neue Schuljahr in der Zürcher Volksschule – das sind 620 Schülerinnen und Schüler mehr als im August 2020. In Entwicklungsgebieten mit starker Wohnbautätigkeit (Seebach, Thurgauerstrasse, Letzi inkl. Zollfreilager, Greencity, Schwamendingen-West) steigt die Anzahl Schülerinnen und Schüler am stärksten. Im ganzen Kanton Zürich mussten 115 zusätzliche Klassen eröffnet werden – 98 in der Primarschule und 19 in der Sekundarschule. Insgesamt gibt es in diesem Schuljahr 7851 Schulklassen. Trotz anhaltenden Schülerwachstums konnten praktisch alle 17 000 Stellen in der Zürcher Volksschule besetzt werden.

Tausende Zürcher Kinder packen am Montag erstmals ihren Schulthek. Unter welchen Bedingungen startet das neue Schuljahr?

Filippo Leutenegger: Das neue Schuljahr startet unter guten Vorzeichen. Schutzkonzepte, Abstands- und Hygieneregeln werden die Schulen noch eine Weile umsetzen müssen. Um auf unerwartete Entwicklungen vorbereitet zu sein, setzen verschiedene Schulen nach den Sommerferien auf wiederholte Reihentests.

Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Wird die Schule jemals wieder so sein wie früher?

Eine Krise hinterlässt immer Spuren, im positiven wie im negativen Sinn. Wir haben während der Pandemie einiges gelernt. Um dies künftig in den Schulen sinnvoll anwenden zu können, haben wir gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule Zürich in einer Evaluation zum Thema Fernlernen Eltern, Kinder und Lehrpersonen zu ihren Erfahrungen befragt. Für die ganze Stadt wurden Standards für den Fernunterricht definiert.Das ist eine wichtige Massnahme.

Durch Homeschooling waren Eltern deutlich stärker in den Schulalltag involviert. Wo liegen künftig die Gestaltungsspielräume der Mütter und Väter?

Die Mitwirkung der Eltern während des Lockdowns war zentral. In den Schulen hat sich elterliches Engagement gut etabliert, auch bei der Entwicklung von Schulprogrammen. Zudem werden sie in zahlreiche Projekte des Schulamts einbezogen und bringen zweimal pro Jahr via städtisches Elternkontaktgremium ihre Fragen und Kritik bei mir ein.

Bildungseinrichtungen sollen nicht mehr geschlossen werden. Ist Präsenzunterricht zukunftsfähig?

Präsenzunterricht ist in der Schule absolut notwendig, denn Schule bedeutet ja nicht nur eine Abfolge von Lektionen, in denen Unterrichtsstoff vermittelt wird. Wir sprechen von der Schule als Lebensraum, in dem Kinder nicht nur lernen, sondern auch soziale Erfahrungen sammeln: miteinander, in Gruppenarbeiten, in der Pause sowie beim Mittagessen.

In der Primarschule wird neu «Medien und Informatik» unterrichtet. Wie ist es um die Digitalisierung der Schulen bestellt?

Die Digitalisierung ist schon lange ein Thema in der Stadtzürcher Volksschule. Wir sind jetzt mit dem Projekt KITS Next Generation unterwegs. Dies umfasst unter anderem Tablets für 5.- und 6.-Klässler, intensive Weiterbildungen für die Lehrpersonen sowie «bring-your-own-device-Konzepte» und Flotten mit mobilen Geräten, sogenannten Convertibles.

Eine Schule am Zürichsee schafft Hausaufgaben für Erst- bis Drittklässler probehalber ab. Wird die Stadt Zürich nachziehen?

Wie die einzelnen Schulen das Thema Hausaufgaben angehen, liegt in ihrer Kompetenz und wird nicht von der Stadt zentral gesteuert.

Eltern haben hohe Ansprüche an die Schule. Dies führt zu Konflikten mit den Lehrerinnen und Lehrern und häufig auch zu Komplikationen.

Es gibt tatsächlich einzelne Mütter und Väter, welche die Schulen mit ihren persönlichen Anliegen und Interessen überstrapazieren. Doch in aller Regel lässt sich mit lösungsorientierten Gesprächen eine Vertrauensbasis schaffen.

Sind überfürsorgliche Helikopter-Eltern den Schulen ein Dorn im Auge?

Helikopter-Eltern sind vor allem für ihre eigenen Kinder ein Problem, da sie ihnen den Raum nicht geben, um eigene – unter Umständen auch unbequeme – Erfahrungen zu machen. Aber natürlich müssen sich alle Eltern bewusst sein, dass ihr Kind nicht das Einzige ist, um das sich die Lehr- / oder Betreuungsperson kümmern muss.

Die Abgangsentschädigung für den zurückgetretenen Schulpräsidenten Roberto Rodriguez sorgte für grossen Wirbel. Er wurde zum Schulleiter im eigenen Schulkreis gewählt, trat für den neuen Job freiwillig zurück und kassierte 650 000 Franken. Nach scharfer Kritik verzichtet er nun auf den Posten. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich habe mir die Augen gerieben, als ich von dieser Wahl erfahren habe, nachdem sie schon erfolgt war. Die Abfindungen in dieser Höhe sind nach einem freiwilligen Rücktritt nicht zu rechtfertigen. Aber entscheiden wird die geplante Revision das Gemeindeparlament. Wir dürfen auf die Debatte und das Resultat gespannt sein.

Wo sehen Sie im Schulwesen konkret Handlungsbedarf?

Die Schulkreise führen ein Eigenleben und sind nicht im städtischen Führungssystem eingegliedert. Die Stadt könnte das System ändern und Bildungsverantwortliche einsetzen, wie dies schon in einigen Schulgemeinden im Kanton Zürich geschehen ist. Der Gemeinderat verlangt zudem in einer Motion, dass die Schulorganisation überprüft wird.

Die Brennpunkte der Siedlungsentwicklung verteilen sich auf mehrere Schulkreise. Durch den neuen Stadtteil Manegg/Greencity wird der Schulraum knapp. Kinder müssen in die Provisorien in Leimbach ausweichen und weitere Wege in Kauf nehmen. Ist das zumutbar?

Die Kreisschulbehörden berücksichtigen bei der Schulzuteilung neben anderen wichtigen Kriterien vor allem die Länge und Sicherheit des Schulwegs. Bei umstrittenen Schulwegen können sich die Eltern an die Kreisschulbehörde wenden.

Die neue Schulanlage Allmend in Greencity wird erst im Sommer 2023 bezugsbereit sein. Wie zufrieden sind Sie mit der Schulraumplanung?

Mit der kürzlich von meinem Amtskollegen André Odermatt und mir lancierten Schulraumoffensive wird die Schulraumkapazität in den kommenden Jahren stark ausgebaut: 25 Grossprojekte befinden sich in Umsetzung sowie in Planung. Wir haben erstmals in einem umgebauten Bürogebäude eine Sekundarschule untergebracht. Die Sekundarschule Kappeli im Schulkreis Letzi ist seit April im benachbarten Bürogebäude Mürtschenpark eingemietet. Ähnliche Projekte – Campus Glattal, Radiostudio Brunnenhof – folgen. Wir sind auf Kurs.

Die Zahl der Elterntaxis steigt schweizweit immer weiter an. Was halten Sie davon, wenn Eltern ihre Kinder mit dem Auto in die Schule chauffieren?

Die Schulwegsituation ist in Zürich im internationalen Vergleich hervorragend. Wir raten deshalb von Elterntaxis ab, denn in der Stadt Zürich mit den relativ kurzen Distanzen braucht es sie nicht. In der ersten Zeit des Kindergartens ist es je nach Schulweg durchaus sinnvoll, ein Kind zu Fuss zu begleiten. Aber der Schulweg soll für die Kinder auch ein Stück Eigenverantwortung und Freiraum sein, in dem sie Erfahrungen ohne Aufsicht von Erwachsenen machen und Sicherheit im Verkehr entwickeln können.

Kinder werden immer früher eingeschult. Was wird heute von einem Schulkind erwartet?

Wichtig ist, dass sich ein Kind auf Deutsch verständigen kann. Das Stadtzürcher Projekt «Gut vorbereitet in den Kindergarten» richtet sich an Eltern von fremdsprachigen Kindern, um eineinhalb Jahre vor dem Kindergarteneintritt den Zugang zu speziell auf Deutschförderung ausgerichtete Kitas zu ermöglichen.

Nach den Sommerferien geben vierzehn Stadtzürcher Schulen versuchsweise gratis Tampons und Binden in den Frauentoiletten ab.Möchten Sie damit das Thema Menstruation enttabuisieren?

Es geht mir nicht um die Enttabuisierung, sondern um einen kleinen, aber hilfreichen Schritt für einen sorgloseren Umgang mit dem Thema Menstruation.

Schülerinnen und Schüler stehen unter Druck. Ungefähr jedes achte Schulkind fühlt sich frustriert oder fehl am Platz. Ab der 2. Sekundarklasse wird Psychische Gesundheit Unterrichtsstoff. Wie wichtig ist das in Ihren Augen?

Die Schule kann natürlich nicht alles richten und der Druck kommt auch nicht nur von der Schule. Aber ich finde es sehr wichtig, dass psychische Gesundheit in der Schule thematisiert wird.

Auch Mobbing ist ein Thema. Was wird unternommen, wenn Kinder einander fertigmachen?

Unsere Lehr- und Betreuungspersonen werden für dieses Thema sensibilisiert, beispielsweise in Weiterbildungen. Zudem verfügt unsere Fachstelle für Gewaltprävention über einen grossen Erfahrungsschatz in diesem Bereich. Sie bietet Beratungen für Schulen an und auch Kriseninterventionen vor Ort, wenn eine Lehrperson oder eine Schule dies braucht.

Die Nachfrage nach Betreuungsplätzen für Schulkinder steigt stark. Stadtrat und Schulpflege wollen alle Schulen in freiwillige Tagesschulen überführen. Wie wichtig ist dieser Schritt?

Der Schritt ist ein gesellschaftlicher Meilenstein, um einerseits dem Bedarf an schulischer Betreuung zu entsprechen und andererseits die Vereinbarkeit von Beruf und Familie breit zu ermöglichen. Ab Schuljahr 23/24 werden die Schulen etappenweise in Tagesschulen überführt.

Droht durch steigende Schülerzahlen ein Lehrermangel?

Ein Lehrermangel hat verschiedene Gründe, beispielsweise eine Pensionierungswelle bei den Babyboomern oder auch steigende Schülerzahlen. Es spielen aber auch gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle. Ob langfristig ein Lehrermangel droht, wissen wir daher nicht.

Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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