mobile Navigation

News

Die Pandemie hat den Städtetourismus hart getroffen. Die Zahl der Logiernächte ist in Zürich um fast 70 Prozent eingebrochen. Thomas Wüthrich möchte den Städtetourismus wieder aufleben lassen. Bild: GH

Ein Berner holt Zürich aus dem Winterschlaf

Von: Ginger Hebel

25. Januar 2022

Thomas Wüthrich ist der neue Direktor von Zürich Tourismus. Für den gebürtigen Berner Oberländer hört Zürich nicht an der Stadtgrenze auf. Das Umland gewinne immer stärker an Bedeutung. Der 47-Jährige will den eingeschlafenen Städtetourismus wiederbeleben und Zürich zum Erlebnis machen. Von Ginger Hebel

Er ist ein Weitgereister, lebte in Stockholm und Berlin. Die Stadt Zürich hat es dem gebürtigen Berner Oberländer Thomas Wüthrich jedoch besonders angetan. Er mag die Altstadt mit ihrem pittoresken Charme, die Nähe zum Wasser. Immer wieder zieht es ihn auf die Waid «mit der schönsten Aussicht auf die Stadt», wie er mit einem Glänzen in den Augen sagt, aber auch an die Europaallee, den sich rasant entwickelnden Stadtteil, wo der Wind durch die Häuserschluchten peitscht und sich Passanten in einer Grossstadt wähnen.

Thomas Wüthrich ist der neue Direktor von Zürich Tourismus. Heute ist sein 26. Tag im Amt. Er tritt in die Fussstapfen von Martin Sturzenegger, der nach acht Jahren zur Säntis Schwebebahn AG wechselte. Wüthrich schreitet über den Negrellisteg, der über das Gleisfeld beim Zürcher Hauptbahnhof führt und die Kreise 4 und 5 miteinander verbindet. Wo Wege zusammenkommen und sich trennen.

Herkunft nebensächlich

Der 47-Jährige übernimmt Zürich Tourismus in inkonstanten Zeiten. Die 60 Mitarbeitenden befinden sich im Homeoffice, der Austausch findet meist über Videokonferenzen statt. «Nach zwei Jahren Pandemie hat man sich an die neuen, flexiblen Arbeitsabläufe gewöhnt, dennoch ist es nicht immer einfach, sich nicht persönlich zu begegnen. Die Tourismusbranche lebt vom Austausch.» Wüthrich greift lieber zum Hörer und bespricht Probleme und Anliegen direkt, «das Mail-Pingpong liegt mir nicht».

 

Ein Berner, der die Stadt Zürich vertritt? Thomas Wüthrich lächelt mögliche Vorurteile weg und zitiert den Sänger Polo Hofer, der auf die Frage, was eine erfolgreiche Mundartband ausmache, dereinst antwortete, «es braucht einen Berner in der Band». Diese Meinung teilt Wüthrich. «Man wird an den Resultaten gemessen, nicht an der Herkunft und am Dialekt», ist der Familienvater überzeugt.

Massiver Einbruch

Zürich, in den Neunzigern noch eine klassische Business- und Finanzstadt, ist in den letzten Jahren immer mehr zu einer Freizeitstadt geworden. Eine «Boutique-Metropole» mit umgenutzten Industriequartieren und Seebadis, die sich abends in Freiluftbars verwandeln, «um solche Orte wird Zürich beneidet». Auch die Wintermonate haben an Beliebtheit zugelegt, besonders bei Gästen aus den Nahmärkten wie Italien, Frankreich und Deutschland sowie aus der Romandie, welche die besondere Weihnachtsatmosphäre in Zürich schätzen.

Seit 2009 stiegen die Logiernächte im Kanton Zürich um die Hälfte und damit deutlich schneller als in der gesamten Schweiz. Im Jahr 2019 wurden rund sechs Millionen Übernachtungen verzeichnet. Die Pandemie stürzte die Branche jedoch in eine unverschuldete Krise. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Logiernächte um knapp 70 Prozent eingebrochen auf 2,26 Millionen Übernachtungen. Im Jahr 2021 sind es gemäss Schätzungen immer noch rund die Hälfte weniger Übernachtungen als 2019. Der Geschäftstourismus leidet stark, auch Gäste aus den Fernmärkten wie Nordamerika oder Asien fehlen. «Es wird dauern, bis die Business-Gäste wieder zurückkehren. Künftig finden sicherlich mehr Meetings virtuell statt, dafür wird die Nachfrage nach Kongressen wieder da sein. Wir stellen ein grosses Bedürfnis fest, Partner wieder vermehrt vor Ort treffen zu können. Bis es so weit ist, müssen wir Geduld haben und vorbereitet sein», sagt Thomas Wüthrich.

Geboren und aufgewachsen in Grindelwald, mit Blick auf die mächtigen Berge, verliess Thomas Wüth­rich mit 20 das Eigerdorf im Berner Oberland, um ferne Länder zu bereisen. Er wurde Flight Attendant bei der damaligen Swissair, wo er später im Marketing arbeitete. Danach folgten viele Jahre bei der MCI Group, einem Grossunternehmen im Kongress- und Eventbereich.

Wüthrich lebte die letzten Jahre in Berlin, wo seine beiden kleinen Kinder auf die Welt kamen. Für seinen neuen Job als Chef von Zürich Tourismus kehrte er der deutschen Hauptstadt den Rücken und bezog mit seiner Familie eine Wohnung in Dübendorf, wo er vor Jahren schon einmal lebte. «Ich empfinde das Leben an der Stadtgrenze als Privileg. Wir haben beides, die Nähe zur Stadt und zur Natur. Wir sehen in der Ferne die Alpen, aber auch die drei 100-Meter-Wohntürme, die in die Höhe wachsen. Die rasante Entwicklung mitzuerleben, ist spannend.»

«Zürich», betont Thomas Wüth­rich, «hört nicht einfach an der Stadtgrenze auf». Das Umland gewinne immer mehr an Bedeutung. Die Tourismusregion reicht von Winterthur und dem Zürcher Oberland über die Stadt Zürich und die Flughafenregion bis nach Rapperswil und die Kantone Schwyz und Zug. «Gäste aus den arabischen Ländern, Indien und Amerika haben eine ganz andere Vorstellung von Distanz. Sie wollen mehr sehen.» Die Pandemie hat die Reise- und Konsumgewohnheiten radikal verändert.

Für Wüthrich ist klar, dass sich Zürich neu positionieren muss. «Wir müssen den Städtetourismus nachhaltig fördern», ist der Chef überzeugt. Die bevorstehende Schliessung des Traditions-Modehauses Modissa verdeutliche das Ladensterben an der Bahnhofstrasse. «Es braucht belebte Zentren.»

Erlebnisse schaffen

Als Tourismus-Direktor würde er es sich wünschen, dass es künftig auch in Zürich möglich sein werde, sonntags einzukaufen. Nicht überall, aber dort, wo sich der Gast aufhält. «In Ferienregionen wie Grindelwald sind die Läden seit Langem auch sonntags geöffnet. Es macht keinen Sinn, eine Stadt anders zu behandeln als einen Berner Kurort.» Zudem dürfe man sich nicht über den konkurrenzierenden Online-Handel beklagen, aber die Läden nicht öffnen. Mit seiner Meinung steht er nicht alleine da. Mehrere kantonale Volkswirtschaftsdirektoren fordern gemeinsam vom Bund, in grossen und kleineren Zentren den Sonntagsverkauf zu ermöglichen. «Einkaufen gehört zum Städteerlebnis», betont Thomas Wüthrich.

Was machen andere Städte besser als Zürich? Für den erfahrenen Touristiker ist klar, dass sich eine Stadt wie Zürich nicht mit Grossstädten wie Berlin vergleichen lasse, wenn, dann mit überschaubaren nordischen Städten wie Kopenhagen und Stockholm. Er bewundert die dortigen Bestrebungen, die Städte komplett auf den Tourismus auszurichten. «Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler», betont Wüthrich.

Diese Strategie verfolgt der begeisterte Netzwerker auch für Zürich. «Die Menschen haben Nachholbedarf. Sie wollen reisen und sich treffen.» Nachhaltigkeit sei ein grosses Thema, nicht nur in Bezug auf den ökologischen Aspekt. «Es geht um die Frage, wie wir den Besuch eines Gastes nachhaltig verankern können, damit er in Erinnerung bleibt.» Barrierefreie Angebote, die niemanden ausschliessen, seien genauso relevant wie ein noch besseres digitales Angebot, damit Gäste auf einer einzigen Plattform Informationen abrufen, Restaurants reservieren und Tickets für Museen und Bahnen buchen können. «Das Ziel ist es, Abläufe zu vereinfachen.» Auch Bus-Chauffeure, welche die Gäste beim Einsteigen grüssen, tragen laut Wüth­rich viel zu einem nachhaltigen Städteerlebnis bei, genauso wie Food-Festivals und Touren in die Natur, nicht nur auf den Hausberg, sondern beispielsweise auch in den nahen Sihlwald. «Es ist ein bewusster strategischer Entscheid, die Leute nicht nur in die Innenstadt zu locken, sondern auf die Region zu verteilen. Das entlastet auch Zürich als Zentrum.» Es ist Wüthrichs kommende Aufgabe und auch sein Ziel, den Städte-Tourismus aufleben zu lassen und eines Tages wieder auf das Vor-Corona-Niveau zu bringen.

Zürich belegt in weltweiten Umfragen zur Lebensqualität stets die vordersten Plätze. Wann die Normalität zurückkehrt, kann auch Wüthrich nur erahnen. «Die Menschen sind müde. Viele verlassen die Branche, weil die Planbarkeit fehlt; das bereitet mir Sorgen.» Hotels und Restaurants verlieren Fachkräfte, «doch genau sie braucht es, um die Qualität, die Zürich ausmacht, zu halten. Wir müssen diese Menschen motivieren. Was wir jetzt alle benötigen, ist Durchhaltewillen».

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

zurück zu News

Artikel bewerten

Gefällt mir 5 ·  
5.0 von 5

Leserkommentare

Keine Kommentare