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«Oui» oder «Non»? Am 4. Juni entscheiden die Genossenschafter, ob in der Migros Alkohol verkauft werden soll. Bild: CLA

Ein Verrat an Duttweiler?

Von: Clarissa Rohrbach

17. Mai 2022

Bis am 4. Juni stimmen Genossenschafterinnen und Genossenschafter ab, ob in der Migros Alkohol verkauft werden soll. Ein Augenschein in der Migros-Filiale in Wiedikon zeigt, dass die Zürcherinnen und Zürcher offenbar Pragmatismus der Tradition vorziehen. 

«Migros ist Migros. Verkauft sie Alkohol, ist sie keine Migros mehr.» Der 68-jährige Kunde steht vor der Filiale in Wiedikon, in der Hand eine Packung Erdbeeren, im Gesicht Empörung. Er ist einer der wenigen an diesem Donnerstagnachmittag, der sich über die bevorstehende Urabstimmung aufregt. Bis am 4. Juni entscheiden 2,3 Millionen Migros-Genossenschafter über die Grundsatzfrage: Soll das bald hundertjährige Alkoholverkaufsverbot aufgehoben werden? Was wenige «Migros-Gralshüter» aufregt, lässt viele kalt, zeigt der Augenschein in Wiedikon. «Mir ist es egal», «es betrifft mich nicht, ich kaufe selten Alkohol», «sollen die machen, was sie wollen», sagen die Kunden, die eilig mit ihren Einkaufstaschen davonlaufen.

Image der Marke stärken

Der Verkauf von Alkohol in der Migros bedeutet mehr, als nur ein paar Bierflaschen in die Regale zu stellen. Die Frage geht zurück auf den Gründer Gottlieb Duttweiler. Der Philanthrop entschied 1928, den Verkauf von Bier, Wein und Schnaps in seinen Läden wegen der «verheerenden Schnapsgewohnheiten» zu untersagen. Dabei nahm er Rücksicht auf die Hausfrauen, die darunter litten, dass ihre Männer das ganze Haushaltsgeld für ihre Trinkgewohnheiten verschleuderten. Duttweiler, auch liebevoll «Dutti» genannt, kündigte den «Kampf gegen das allmächtige Alkoholkapital zur Förderung der Volksgesundheit» an.

Historiker behaupten aber, dass «Dutti» mit seinem sozialen Engagement nicht nur an die Volksgesundheit dachte, sondern vor allem seine Geschäftsziele im Auge hatte. Mit dem Alkoholverkaufsverbot stärkte er das Image der Marke und holte die Frauen auf seine Seite, in einer Zeit, als er wegen der aggressiven Preisstrategie zunehmend öffentlich in Kritik geraten war.

Ist also eine Annahme der Alkoholfrage ein Verrat an Duttweiler? Nein, sagt Christine (57). Die Bayerin findet, es sei falsch, an veralteten Grundsätzen festzuhalten. «Die Welt verändert sich», sagt sie. Alkoholsucht habe zwar früher zu Armut geführt, doch heute sei das nicht mehr so. Ausserdem könne man Alkohol überall kaufen, auch das Verkaufsverbot der Migros halte nicht vom Konsum ab.

Gefahr eines Rückfalls

Das Blaue Kreuz sieht das anders. Dessen Präsident Philipp Hadorn appelliert an die Migros-Mitglieder: «Trockene Alkoholiker sind ständig in Gefahr, in die alte Sucht zurückzufallen.» Bei einem Ja der Genossenschafter wäre die Versuchung künftig allgegenwärtig. «Auch ein schwacher Auslöser kann einer zu viel sein», sagt Hadorn.

In den Medien wird der Abstimmungskampf vehement geführt. Allen voran heizt der frühere Migros-Chef Herbert Bolliger die Diskussion an. Für ihn bedeutet ein Ja ein schwerer «Eingriff in die DNA der Migros». Damit stellt sich Bolliger gegen die aktuelle Führung des Unternehmens. Nachdem fünf Delegierte im Sommer 2021 die Abstimmung angestossen hatten, haben sich alle Migros-Verwaltungen und -Räte (das Migros-Parlament) für eine Annahme ausgesprochen. Auch die Genossenschaft Zürich mit 330 000 Mitgliedern hat die Ja-Parole gefasst. Jede der zehn Migros-Genossenschaften in der Schweiz handelt selbständig. Das heisst, dass auch die Alkoholfrage regional unterschiedlich ausfallen könnte. Kritiker warnen vor einem «Flickenteppich», sollte das Alkoholverkaufsverbot in gewissen Regionen fallen und in anderen nicht. Migros-Präsidentin Ursula Nold spricht lieber von «gelebter Vielfalt».

Mit dem Verkauf von Alkohol dürfte die Migros auch mehr Umsatz machen. Auch eine Stammkundin (28) findet: «So kann die Migros mehr Kunden abholen.» Traditionen seien schön und recht, doch müsse man auch mit der Zeit gehen, ein Alkoholverkaufsverbot sei realitätsfremd. «Ausserdem wäre es praktisch, wenn ich mir den Gang in den Coop ersparen kann», sagt sie. Auch der Geschäftsleiter der Migros Zürich, Jörg Blunschi, erwähnt das Praktische als Argument. In Befragungen bemängelten Kunden, dass die Migros kein «One-Stop-Shop» sei, weil der Alkohol fehle.

Ein 26-jähriger Kunde befürwortet den Alkoholverkauf ebenfalls. Das Verbot ist für ihn Augenwischerei, denn die Migros verkaufe bereits heute online bei Migrolino und bei Denner Alkohol. «Man muss konsequent sein und alkoholische Getränke in allen Filialen einführen.» Mit dem historischen Bezug kann er, wie andere Junge, wenig anfangen. «Viele Junge kennen die Migros-Geschichte nicht und fragen sich, was das soll.»

Mehrheit dagegen

Bis zum Ende der Abstimmung am 4. Juni wirbt die Migros mit einem «Oui»-Bier mit Alkohol und einem «Non»-Bier ohne Alkohol und dem Slogan «Entscheide du». Die Genossenschafter erhalten die Abstimmungsunterlagen per Post und können ihre Stimme einschicken oder in einer Filiale abgeben. Mitte Juni wird die Migros über das Ergebnis informieren. Für die Anpassungen der Statuten, worin das Alkoholverkaufsverbot verankert ist, braucht es eine Mehrheit von zwei Dritteln. Sollten diese angepasst werden, treten sie am 1. Juli in Kraft. Der Verkauf von Alkohol dürfte dann aber erst ab 2023 erfolgen.

Anders als in Wiedikon, wo nur wenige schulterzuckend sagen, «es ist gut, so wie es ist», zeigt eine Umfrage von Tamedia, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer gegen den Alkoholverkauf ist. 58 Prozent der knapp 10 000 Befragten würde dagegenstimmen, 38 Prozent dafür.

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