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Eine Ohrfeige ist meist die erste Gewaltanwendung
Von: Ginger Hebel
Die Zahl körperlich misshandelter Kinder ist gestiegen. Die Ursache sei oft eine Überforderung in der Erziehung, sagt der Kinderarzt Georg Staubli. Er kümmert sich um die Opfer.
Die Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich hat letztes Jahr 486 Fälle bearbeitet, das entspricht einer Zunahme von 16 Prozent gegenüber 2015. Gestiegen ist die Zahl körperlich misshandelter Kinder. Von 180 Verdachtsfällen haben sich 125 erhärtet. In zwei Fällen wurde Strafanzeige erstattet. 160 Kinder wurden mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch untersucht, 89 Fälle wurden bestätigt. Georg Staubli leitet die Notfallstation des Kinderspitals und die Kinderschutzgruppe, die sich um Opfer von Misshandlungen kümmert.
Die bestätigte Zahl körperlich misshandelter Kinder lag letztes Jahr bei 125. Im Vorjahr waren es 96. Wie erklären Sie sich das?
Georg Staubli: Ich war selber erstaunt, dass wir so viel mehr Kinder behandelten. Die Ursache ist oft eine Überforderung in der Erziehung. Eltern wissen nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen, wenn es schreit oder unartig ist, und schlagen es. Eine Ohrfeige ist meist die erste Gewaltanwendung gegenüber einem Kind, doch oft bleibt es nicht dabei. Darum sollte man sich Hilfe von aussen holen.
Misshandlungen geschehen meist hinter verschlossenen Türen. Das Team der Kinderschutzgruppe rund um Kinderarzt Georg Staubli hat sich zum Ziel gesetzt, drohende Misshandlungen abzuwenden und betroffene Kinder und Jugendliche vor wiederholter Misshandlung zu schützen.
Mit welchen Misshandlungsfällen sind Sie konfrontiert?
Kinder werden oft dort geschlagen, wo es am wenigsten auffällt, am Po oder am Bauch. Sie können aber auch Weichteilverletzungen im Bauch haben wie eine Milzverletzung, darum ist eine genaue medizinische Abklärung so wichtig. Die schwerste Form von Misshandlung sehen wir an Kindern unter 18 Monaten. Sie leiden oft an Knochenbrüchen oder sogar an einem Schütteltrauma. Männliche Säuglinge werden öfter geschlagen, wahrscheinlich, weil sie tendenziell mehr weinen als Mädchen. Wenn sich ein Kind bei einem Unfall den Arm bricht, dann ist das eine Sache, aber wenn die Verletzungen mit Gewalt zugeführt wurden, dann ist das für mich als Arzt schwer zu verstehen, denn ein Kind ist wehrlos.
Was passiert, wenn Sie feststellen, dass ein Kind geschlagen wird?
Nach einer Besprechung im Kinderschutzteam konfrontieren wir die Eltern und versuchen herauszufinden, was zu Hause abgeht. Es ist keine einfache Aufgabe, weil viele abstreiten, dass sie ihre Kinder schlagen, uns beschimpfen und bedrohen, wenn wir uns einmischen. Wenn sie aber zugeben, dass sie mit ihrem Kind überfordert sind, können wir mit ihnen arbeiten und gemeinsam Lösungen suchen. In erster Linie geht es darum, das Kind zu schützen. Oft tun wir dies, indem wir es stationär im Kinderspital aufnehmen, bis eine Lösung gefunden ist.
Welcher Fall hat Sie besonders beschäftigt?
Ich erinnere mich an ein neunjähriges Mädchen, es hatte blaue Flecken und Striemen am Körper sowie eindeutige Abdrücke einer Hand auf dem Po. Es war offensichtlich, dass sie geschlagen worden war. Als ich sie darauf ansprach, antwortete es, es sei vom Velo gefallen. Wir konnten es nicht mehr in der Obhut der Eltern lassen. Als ich dem Mädchen sagte, dass es vorübergehend nicht mehr nach Hause müsse, erwiderte es: «Ja, isch guet.» Kinder sind sehr loyal gegenüber ihren Eltern. Sie haben Mami und Papi ja trotzdem gern.
Psychologen sagen, die ersten drei Lebensjahre seien entscheidend. Sind Misshandlungen in dieser Phase schwerwiegender?
Das Bindungsverhalten wächst in den ersten Lebensmonaten bis Jahren. Wenn Kinder keine Liebe und Zuwendung erfahren, wenn man sie sich selbst überlässt, dann ist das die schlimmste Art von Misshandlung, genauso schlimm, wie wenn sie geschlagen werden.
Die zunehmenden Zahlen der gemeldeten Misshandlungsfälle könnten auch in Zusammenhang mit den steigenden Zahlen auf der Notfallstation des Kinderspitals stehen. Letztes Jahr waren es mit 44 000 Kindern 2000 mehr als im Vorjahr.
Sind Kinder heute öfter krank?
Die Zahl der kleinen Patienten steigt bei uns kontinuierlich, obwohl es rundherum mehr Arztpraxen und Permanencen gibt. Ein Grund mag sein, dass heute viele Eltern häufiger wegen Bagatellen ins Spital kommen; wenn ihr Kind erbrochen hat oder seit zwei Tagen erkältet ist. In den Wintermonaten sind es zum grössten Teil Kleinkinder, sie sind häufiger krank, weil sie sich in Krippen gegenseitig anstecken.
Weitere Infos: www.kinderschutzgruppe.ch
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