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Blicken voller Sorge Richtung Osten, wo ihr Heimatland dem Angriff russischer Truppen ausgesetzt ist: Die in Zürich lebenden Ukrainer Yevhen Polyhach (links) und Sasha Kirichenko (rechts). Bild: Sacha Beuth

Geschockt und fassungslos

Von: Sacha Beuth

01. März 2022

Auch bei den in Zürich wohnhaften Ukrainerinnen und Ukrainern ist die Sorge um Freunde und Verwandte in ihrem Heimatland gross. Yevhen Polyhach und Sasha Kirichenko versuchen ihre Landsleute aus der Ferne materiell und moralisch zu unterstützen.

Um zu wissen, wie es Sasha Kirichenko gerade geht, genügt ein Blick in das tränenrote Gesicht des in Zürich lebenden Ukrainers. Seit dem 24. Februar, seit dem Angriff der russischen Armee auf sein Heimatland, befindet sich der 44-jährige Choreograf und Balletttrainer in ständiger Angst um seinen Vater, seinen Onkel und dessen jüngste Tochter. Diese wohnten bis vor vier Tagen noch in einem Appartement im 14. Stock eines Hochhauses in Kiew, bis sie der Beschuss durch russische Raketen zwang, im Keller einer nahegelegenen Kirche Schutz zu suchen. «Zu mir, meinem Zwillingsbruder und meiner Mutter nach Zürich zu fliegen war dann schon nicht mehr möglich. Zum Glück konnten sie am Montag per Zug flüchten», erzählt Kirichenko mit spürbarer Erleichterung in der Stimme. Die drei gelangten nach Lviv, der (zum Zeitpunkt des Drucks dieser Ausgabe) noch relativ sicheren Stadt im Westen des Landes.

Rein ja, raus nein

Aus dieser Gegend, genauer dem Ort Ternopil, stammt Yevhen Polyhach, den es vor rund 14 Jahren ebenfalls nach Zürich gezogen hat. Auch der 45-jährige Physiker verbringt aus Sorge um seine Eltern schlaflose Nächte. «Ich habe ihnen empfohlen, nach Polen zu fliehen, wenn die Situation zu brenzlig wird. Das Problem ist, dass sich der Grenze unzählige Flüchtlinge drängen und mein 85-jähriger Vater und meine 75-jährige Mutter gesundheitlich nur schwer in der Lage sein würden, bei Minus 5 Grad Kälte stundenlang im Freien zu warten, bis sie nach Polen ausreisen dürften.» Sie selber aus der Ukraine zu holen, sei keine Option gewesen. «Ich wäre wohl hinein, aber nicht mehr hinausgelangt, weil dies Männern im kampffähigen Alter nicht mehr erlaubt ist.» Sich mit der Waffe in der Hand den Invasoren entgegenzustellen, habe er sich zwar überlegt, sei aber davon abgekommen. «Einerseits habe ich hier eine Frau und einen kleinen Sohn, andererseits kann ich aus der Ferne durch das Sammeln von Lebensmitteln, Kleidern, Medikamenten und das Mobilisieren von Leuten zum Geldspenden viel mehr bewirken. Das alles wird dringend benötigt, während es genug Leute hat, die kämpfen wollen.» Das sieht Kirichenko gleich. «Als gelernter Balletttänzer, der nie ein Gewehr angefasst hat, bin ich meinem Land als Soldat nicht von Nutzen. Wohl aber, wenn ich Geld, das ich dank meiner Arbeit hier verdiene, in die Ukraine schicke und mich in der Öffentlichkeit für mein Land stark mache. Oder indem ich beispielsweise den Medien erzähle, was dort passiert – obwohl mir meine Mutter davon abgeraten hat, weil sie Angst hat, ich könnte so zum Ziel von Putins Auslandsgeheimdienst werden.»

Mit Kirichenko und Polyhach leiden und zittern knapp 500 weitere Ukrainerinnen und Ukrainer in der Stadt Zürich. Bei vielen sitzt der Schock immer noch tief, dass sich ihr ganzes Land plötzlich im Kriegszustand befindet. «Das ging selbst mir so, obwohl ich einen Angriff anhand von Putins früherer Vorgehensweise irgendwie erwartet habe», erzählt Polyhach (siehe Box). «Hunderte von Toten, all die Zerstörung – Was in uns Zürich-Ukrainern deswegen vorgeht, kann man gar nicht beschreiben.» Es sind aber nicht nur negative Gedanken. «Zum Glück ist bislang noch niemand, den ich kenne, umgekommen. Und es bewegt mich, wie die Leute hier Anteil an unserem Schicksal nehmen und sich für uns einsetzen. Viele haben mich gefragt, wie sie helfen können. Es gibt sogar Russen in meinem Bekanntenkreis, die den Angriff verurteilen und sich von Putin vehement distanzieren.» Kirichenko nickt stumm. Dann meint er: «Ich hoffe, dass dieser Spuk bald ein Ende hat und wieder Frieden einkehrt. Es ist einfach unglaublich, dass so etwas in Europa noch im Jahr 2022 geschehen kann.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

Ein Konflikt mit Ansage: Die Geschichte der Ukraine in Kurzfassung

Die Ukraine ist noch ein relativ junger Staat und hat zusammen mit Russland und Belarus/Weissrussland gemeinsame Wurzeln in der sogenannten Kiewer Rus, einem altostslawischen Grossreich, das im 9. Jahrhundert n. Chr. entstand. Es reichte von der Ostsee über das heutige Nischni Nowgorod im Osten, das Asowsche Meer im Süden und das polnische Przemysl im Westen. Nach dessen Zersplitterung im 13. Jahrhundert fielen einige Teile davon unter mongolische, andere unter polnisch-litauische Herrschaft und aus anderen entwickelten sich eigenständige Fürstentümer, darunter das Grossfürstentum Moskau. Aus letzterem erwuchs das Zarenreich Russland, das sich in der Folge über Jahrhunderte mit Polen und später auch dem Osmanischen Reich um die Ukraina (= altrussisch für Grenzland) stritt, wobei sich die Grenzen immer wieder verlagerten.

Russland festigte seinen Anspruch auf das Gebiet der heutigen Ukraine, als es 1709 in der Schlacht von Poltawa das Heer von Schwedenkönig Karl XII bezwang. Erst im 19. Jahrhundert begann sich in der Ukraine eine Nationalbewegung zu entfalten und nach dem 1. Weltkrieg entstanden gar zwei kurzlebige, unabhängige Nationalstaaten (Ukrainische Volksrepublik und Westukrainische Volksrepublik). Kein Jahr später waren auch diese wieder Geschichte und die Sowjetunion hatte sich einen Grossteil des Gebietes als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik einverleibt. 1954 wurde die Halbinsel Krim aus der russischen in die ukrainische Sowjetrepublik überführt. Mit dem Zerfall des Sowjetreiches erlangte die Ukraine 1991 ihre staatliche Unabhängigkeit.

2014 anektierte Russland die Krim und unterstützte sezessionistische Bestrebungen russischer Minderheiten in der Ostukraine (Donbass), in der es seither unablässig zu Kampfhandlungen kommt. Am 24. Februar 2022 erfolgte dann auf Geheiss Putins der russische Überfall auf die Ukraine. Der russische Präsident begründete die «militärische Operation» damit, dass er auf diese Weise die russischstämmige Bevölkerung in der (Ost-)Ukraine vor einem angeblichen Genozid schützen und einer neofaschistischen Entwicklung im Nachbarland Einhalt gebieten wolle. Viele unabhängige Politexperten sehen den wahren Grund jedoch in der Absicht, die Demokratie-Bewegung in der Ukraine und deren West-Orientierung zu stoppen, gepaart mit der Ansicht, dass die Ukraine historisch ohnehin ein Teil (Gross-)Russlands sei. 

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