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Die Scham, nicht richtig lesen und schreiben zu können, ist bei vielen Betroffenen gross. Die Lernstube in Altstetten möchte diese Bildungslücke schliessen. Animatorin Mirjam Wenger (vorne Mitte) unterstützt die Teilnehmenden.Bild: GH

Lesen können längst nicht alle

Von: Ginger Hebel

07. Dezember 2021

Schreiben, Lesen oder den Computer bedienen: Für 140 000 Zürcherinnen und Zürcher ist das keine Selbstverständlichkeit. Die neue Lernstube Altstetten hilft bei Defiziten in den Grundkompetenzen. 

Sandro arbeitet als selbstständiger Schreiner in der Stadt Zürich. Das Geschäft läuft gut. Doch der 45-Jährige kann weder richtig lesen noch schreiben, trotz seiner Schulausbildung in der Schweiz. Bisher tat er alles, um sein Manko zu vertuschen. Jetzt hat er genug. Er will seine Bildungslücke schliessen und besucht darum die Lernstube in Altstetten. «Die Hemmschwelle ist gross. Viele Betroffene schämen sich für dieses Defizit und wollen nicht zugeben, dass sie nicht gut lesen und schreiben können. Doch sie sind nicht allein», sagt Mirjam Wenger. Als Animatorin betreut sie die Teilnehmenden der Lernstube in Alt­stetten. Caritas Zürich leitet dieses Unterstützungsangebot im Auftrag des Kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamts.

Ein verstecktes Problem

140 000 Menschen im Kanton Zürich haben Mühe mit Lesen und Schreiben, mit Alltagsmathematik oder besitzen geringe bis gar keine digitalen Grundkenntnisse. Schweizweit sind es 800 000 Personen. «Dies zeigt, wie wichtig niederschwellige Angebote sind», sagt Barbara Hertzman vom Programm Grundkompetenzen Erwachsene des Mittelschul- und Berufsbildungsamts Kanton Zürich.

Betroffene können in den Lernstuben einfach vorbeikommen und sich beraten lassen. «Wir wollen es ihnen so einfach machen wie möglich», sagt Hertzman. Die Lernstube Altstetten ist bereits wenige Tage nach der offiziellen Eröffnung gut besucht. Jüngere wie auch ältere Frauen und Männer sitzen vor den Computern und lassen sich im Lesen und Schreiben schulen. Neben Fachpersonen unterstützen Freiwillige bei administrativen Anliegen, beim Verfassen eines Bewerbungsbriefes und im Umgang mit Handy und Computer. Die Kurse und Angebote richten sich primär an Personen, die in der Schweiz zur Schule gegangen sind, sowie an Menschen, die sich in der digitalen Welt schlecht zurechtfinden.

Wer nicht richtig lesen kann, leidet oft im Alltag. «Es kann belastend sein, wenn man die nächste Tramverbindung nicht selbständig heraussuchen kann oder den Beipackzettel eines Medikaments nicht versteht», sagt Mirjam Wenger. Vor Ort wird das Verständnis gefördert und die Lust am Lernen geweckt. «Kürzlich erzählte mir ein Kursteilnehmer, dass er durch die Hilfe in der Lernstube eine Stelle gefunden hat. Diese Erfolgserlebnisse zu teilen, empfinde ich als bereichernd.»

Bildungslücke schliessen

Die Trägerschaft der Lernstube Alt­stetten, Caritas Zürich, ist überzeugt: Bildung ist ein Schlüssel gegen Armut. «Fehlende Grundkompetenzen sind ein verstecktes Problem. Deshalb braucht es leicht zugängliche Lernstrukturen», sagt Andreas Reinhart, Mediensprecher Caritas Zürich. Diese Meinung teilt auch Barbara Hertzman. «Unser Ziel ist es, ein kantonales Netz an Lernstuben aufzubauen, um diese Bildungslücke zu schliessen.» Von Januar bis November 2021 haben 700 Personen die verschiedenen Lernstuben im Kanton Zürich besucht und 3100 Angebote belegt. Jeder Mensch lernt unterschiedlich schnell. Es gehe nicht darum, danach komplizierte Lektüre zu konsumieren, sondern den Alltag besser zu bewältigen. Mirjam Wenger ist überzeugt: «Lernfähigkeit ist keine Frage des Alters.»

Weitere Infos: Lernstube Altstetten Stellwerk 500, Hohlstrasse 500

www.lernstuben.ch

Wie ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

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