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Für die Flüchtlingskinder bedeutete das Kinderheim Wartheim in Heiden einen kleinen Lichtblick. Eine Aufnahme von 1943. (Bild: Erna Guggenheim)

Reise der Ängste und der Hoffnungen

Von: Jan Strobel

11. November 2022

In seinem neuen Roman wirft Schriftsteller Roger Reiss ein Licht auf ein vergessenes Kapitel der Schweizer Geschichte während des Zweiten Weltkriegs. 

Wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sie sich als Schweizer Bürger nicht nur vor Hitlers Übergriffen, sondern auch vor der Gesellschaft in ihrer Heimat mit ihrem latenten Antisemitismus fürchten müssen, diese Frage treibt die junge Zürcher Jüdin Ruthi und ihr Ehemann Raymond um, seit sie sich in ihr Versteck in einem Bauernhaus im aargauischen Lengnau zurückgezogen haben.

Es ist sozusagen ein Exil in der eigenen Heimat; gleichzeitig sind die beiden überzeugt, dass eine Invasion der Schweiz durch die deutsche Wehrmacht kurz bevorsteht, die jüdische Bevölkerung auch hier Hitlers Mordmaschinerie ausgeliefert sein wird. Mit seiner Angst ist das Paar keineswegs allein. Tatsächlich hatte das deutsche Oberkommando bereits 1940 entsprechende Planungen unter dem Namen «Unternehmen Tannenbaum» ausgearbeitet. Und jetzt, als sich Ruthi und Raymond in ihrem Versteck befinden, erreicht der Weltkrieg um die Schweiz herum apokalyptische Dimensionen.

Ein Problem allerdings hat es mit dem selbst gewählten Zufluchtsort auf sich: Lengnau mit seiner jahrhundertelangen jüdischen Geschichte liegt nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Besonders sicher erscheint die Gegend also nicht. Ruthi und Raymond brauchen einen Plan B, ein persönliches Reduit irgendwo in den Bergen. «Ich habe eine Idee», sagt Ruthi. «Sobald es losgeht, bringst du mich nach Heiden, dort gibt es ein von Juden geführtes Kinderheim, einen Unterschlupf für jüdische Kinder mit dem unglücklich gewählten Namen ‹Wartheim›». Es ist für die beiden der Beginn einer Tour de Suisse der Angst, der Bedrängnis – aber auch der Hoffnung.

Historische Tatsachen

Die fiktive Geschichte von Ruthi und Raymond erzählt der in Genf lebende Zürcher Schriftsteller Roger Reiss in seinem neusten Roman «Zwischenstation: Wartheim Heiden». Tatsächlich aber basiert der Kern des Buchs auf historischen Tatsachen und Geschehnissen, welche in der Aufarbeitung der Schweizer Geschichte und ihrer Rolle während des Zweiten Weltkriegs weitgehend der Vergessenheit anheimfielen. Mit «Zwischenstation: Wartheim Heiden» wirft Roger Reiss ein Licht auf das dunkel gebliebene Kapitel dieser Historie.

Das Kinderheim im appenzellischen Heiden, in dem sich Ruthi und Raymond im Buch ein sichereres Leben und eine Arbeit erhoffen, existierte tatsächlich. 1926 war es vom Israelitischen Frauenverein Zürich gegründet und 1928 eröffnet worden. Das Heim sollte zunächst erholungsbedürftigen jüdischen Kindern einen günstigen Ferienaufenthalt ermöglichen. In den 1930er-Jahren, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, erreichten auch Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich das Heim. Eine besondere Rettungsaktion ereignete sich kurz nach den Novemberpogromen – der sogenannten Reichskristallnacht – vom 9. auf den 10. November 1938. Am 19. November erlaubte die Eidgenössische Fremdenpolizei dem Schweizerischen Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) die Einreise von 300 gefährdeten jüdischen Kindern zum vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz. Als Frist wurde den Kindern ein Aufenthalt von sechs Monaten zugestanden, bis ihre Eltern die Ausreise aus Deutschland organisiert hätten. Die meisten dieser Kinder sollten ihre Eltern indessen nie wiedersehen. Rund 50 von ihnen kamen in Heiden unter. Aus Monaten im Kinderheim Wartheim wurden Jahre.

Das Schicksal dieser Kinder beleuchteten erstmals 1973 der Journalist Alfred A. Häsler und die deutsch-amerikanische Soziologin Ruth K. Westheimer in einer grossen Reportage-Serie für die «Tat». Geschildert wird dort die Geschichte von Karola Siegel, wie Ruth Westheimer als Kind hiess. Als jüdisches elfjähriges Mädchen aus Frankfurt am Main wurde sie nach der Pogromnacht von ihren Eltern getrennt und fand schliesslich im Kinderheim Wartheim Zuflucht. Mit 50 Jahren profilierte sich Ruth K. Westheimer zur prominentesten Sexualtherapeutin der USA.

Die beiden Protagonisten Ruthi und Raymond werden auf ihrer Exil-Reise schliesslich einen Ort finden, der ihr Reduit selbstbewusst aufbrechen wird. «Zwischenstation: Wartheim Heiden» gibt den Blick auf ein eindrückliches und bedrückendes Stück Schweizer und jüdischer Geschichte frei.


Weitere Informationen:
Roger Reiss: «Zwischenstation: Wartheim Heiden», erhältlich als Taschenbuch bei www.amazon.de
ISBN: 979-8849460697

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