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Für Frauen in Not gibt es die Möglichkeit der vertraulichen Geburt. Bild: Adobe Stock

Schwanger, bedroht, verzweifelt

Von: Ginger Hebel

23. Juni 2021

Notlage: Vor 20 Jahren wurde im Spital Einsiedeln das erste Babyfenster eröffnet. Mütter in Not können ihr Baby anonym in medizinische Obhut geben. Im Kanton Zürich befindet sich das einzige Babyfenster im Spital Zollikerberg. Spitäler in der Stadt bieten vertrauliche Geburten an, um bedrohte Frauen zu schützen. 

Das Mädchen heisst Sarah. Es tut mir leid, aber ich kann Sarah nicht behalten. Da ich sehr viele Probleme habe, passt Sarah nicht in mein Leben. Ich weiss, durch euch findet sie eine bessere Mutter, die ihr das geben kann, was ich nicht habe. Es tut mir wirklich leid.

Dieser Brief stammt von einer verzweifelten Mutter. Sie legte ihr Kind in ein Babyfenster – anonym.

Vor zwanzig Jahren wurde mit der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind im Regionalspital Einsiedeln (heute AMEOS Spital) das erste Babyfenster der Schweiz und eines der ersten weltweit eröffnet. Vierzehn Neugeborene wurden bisher in die Klappe gelegt, das letzte im August 2018, ein 2795 Gramm leichtes und 44 Zentimeter grosses Mädchen. «Wir sehen unsere Funktion darin, mit dem Babyfenster eine Teillösung für ein gesellschaftliches Problem zu bieten», sagt Mirjam Panzer vom AMEOS Spital Einsiedeln.

Wird das Babyfenster geöffnet, dauert es drei Minuten, bis der Alarm ausgelöst wird. Das Kind wird umgehend von einem professionellen medizinischen Team betreut und versorgt. «Das Babyfenster hat zum Ziel, Kindsaussetzungen und Tötungen zu vermeiden. Es rettet Leben», sagt Dominik Müggler von der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind, der grössten Betreiberin von Babyfenstern im Land. Ihrer Statistik zufolge wurden seit 1997 schweizweit 30 Babys ausgesetzt oder getötet. Die Statistik zeige klar auf, dass zwar nicht die Zahl der kritischen Fälle abgenommen habe, dass aber die Neugeborenen eher ins Babyfenster gelegt als ausgesetzt oder getötet würden.

«Ist der Weg für die Frau, die gerade erst geboren hat, zu weit bis zum nächsten Babyfenster, besteht eine grosse Gefahr, dass sie ihm etwas antut», sagt Dominik Müggler. Es brauche in der Schweiz deshalb zwölf bis vierzehn Babyfenster, derzeit sind es acht an den Standorten Basel, Bern, Olten, Einsiedeln, Davos, Bellinzona, Sitten und Zollikerberg (das Einzige im Kanton Zürich). Es wurde seit Eröffnung im Jahr 2014 einmal genutzt. Die Eltern wollten ihr Kind dann aber zurück haben. Das Neugeborene im Babyfenster gilt rechtlich als Findelkind. Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) errichtet eine Vormundschaft und platziert es vorübergehend bei Pflegeeltern. Die leiblichen Eltern haben ein Jahr lang Zeit, ihr Kind zurückzuverlangen, ehe es zur Adoption freigegeben wird.

Total wurden bis heute 26 Babys anonym abgegeben. Sechs wurden von den Eltern zurückverlangt. In weiteren sieben Fällen haben die Mütter ihre Identität preisgegeben und einer Adoptionsfreigabe zugestimmt.

Gebären unter Pseudonym

Babyfenster sind legal, stehen aber auch in der Kritik. «Wer sein Kind in einem Babyfenster abgibt, stiehlt ihm das Recht auf Kenntnis seiner biologischen Herkunft. Jedes Kind soll wissen dürfen, wer seine Mutter und sein Vater ist», findet Karin Meierhofer, Geschäftsleiterin PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz. Mit dieser Meinung steht sie nicht allein da. Mehrere Vorstösse im Parlament forderten eine Schliessung der Babyklappen – ohne Erfolg. Der Bundesrat hält in seinem Bericht fest, dass ein Verbot dazu führen könnte, dass eine Mutter in einer Notsituation ihr Kind im Versteckten aussetzt und dieses in der Folge medizinisch nicht rechtzeitig betreut werden kann.

Letztes Jahr kamen in der Stadt Zürich 5133 Kinder zur Welt, leicht weniger als im Vorjahr. Die Gesetze verpflichten Kliniken, die Daten der Gebärenden zu erfassen. Sie müssen die Geburt eines Kindes innerhalb von drei Tagen inklusive dem Namen der Mutter an das Zivilstandsamt melden. Die komplett anonyme Geburt ist in der Schweiz – anders als etwa in Frankreich – verboten. Wird eine Frau durch ihr soziales Umfeld bedroht, besteht die Möglichkeit der vertraulichen Geburt. «Es ist uns wichtig, dass Frauen in Notsituationen eine würdige Geburt mit medizinischer Betreuung für sich und das Kind erhalten. Auch wenn bis anhin dieses Angebot im Triemli nur vereinzelt genutzt wurde, ist es den betroffenen Frauen ein grosses Bedürfnis, in einem sicheren Umfeld gebären zu können», sagt Gabriella Stocker, Chefarzt-Stellvertreterin Geburtshilfe, Stadtspital Triemli.

Roland Zimmermann, Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsspital Zürich, erklärt: «Am USZ gab es auch schon vertrauliche Geburten, wir sind dafür eingerichtet». Im Spital Zollikerberg ist es möglich, unter einem Pseudonym zu gebären, wenn man beispielsweise keinen Besuch von der Verwandtschaft erhalten möchte oder sich in einer schwierigen Situation befindet. Vor der Geburt hinterlegt die Frau ihre richtigen Personalien. Dem Spital ist der Name der Patientin somit bekannt, nicht aber der betreuenden Ärztin und Hebamme. Absolute Anonymität sei jedoch nur während der Schwangerschaft möglich zwecks Untersuchungen. Das Spital Zollikerberg verweist auf das spezielle Angebot der Helpline für Schwangere in sozialer Not. Fachpersonen bieten Hilfe bei Beziehungskonflikten, Gewalt und Verfolgung, Ängsten und gesundheitlichen Problemen.

Auch im Spital Einsiedeln besteht die Möglichkeit der vertraulichen Geburt. «Es ist für eine werdende Mutter selbstverständlich sicherer, wenn sie ihr Kind im Umfeld eines Spitals zur Welt bringt und ihr so bei Bedarf geholfen werden kann», sagt Mirjam Panzer.

Frauen in Not informieren

Karin Meierhofer von PACH Pflege- und Adoptivkinder begrüsst die Möglichkeit der vertraulichen Geburt, sieht aber Verbesserungspotenzial. «Schwangere Frauen sind über die vertrauliche Geburt aufzuklären. Zudem müssen Fachpersonen besser informiert und sensibilisiert werden.» PACH plant, einen einheitlichen Leitfaden mit Zuständigkeiten und Abläufen zu erarbeiten. Viele Frauen befürchten, dass sie ihr Kind nach einer vertraulichen Geburt automatisch zur Adoption freigeben müssen, was nicht stimme. «Es ist deshalb wichtig, dass genügend Mutter- und Kind-Einrichtungen zur Verfügung stehen», fordert Karin Meierhofer.

Die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind, die auch die Babyfenster betreibt, unterstützt die vertrauliche Geburt vorbehaltlos. Sie sieht sie aber nicht als Alternative, sondern als wünschenswerte Ergänzung. «Für eine Frau, die das Bedürfnis nach absoluter Anonymität hat, ist die vertrauliche Geburt nicht geeignet», sagt Dominik Müggler. Sie müsse jederzeit damit rechnen, dass Schwangerschaft und Geburt bekannt werden oder nach achtzehn Jahren die Vertraulichkeit vollständig wegfällt, «dann, wenn das Kind plötzlich an der Haustür klingelt und sagt «Hallo, Mami, hier bin ich!». Ein Kind, von dem bis anhin niemand etwas wissen durfte.

Kostenlose Beratung für Frauen in Not gibts bei der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind
Tel.: 0800 811 100

www.spitalzollikerberg.ch/geburtshilfe/helpline

www.babyfenster.ch

www.pa-ch.ch

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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