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«Wir wollen Social Media nicht verteufeln – aber der Druck ist sehr gross», sagt Maurizia Franscini, Leitende Ärztin und Projektverantwortliche «Life» der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (kl. Bild). Symbolbild: Adobe Stock

Selbstzweifel und Hass im Netz

Von: Ginger Hebel

18. Oktober 2022

Die Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist angespannt. Mit der Kriseninterventionsstelle «Life» hat in Zürich soeben eine Anlaufstelle für gefährdete junge Menschen eröffnet. 

Die junge Frau weint. Sie findet sich nicht hübsch und nicht gut genug. Und sie wird im Internet gemobbt. Durch die Hasskommentare fühlt sie sich minderwertig, sie zieht sich zurück. Sie hat immer öfters dunkle Gedanken. Am liebsten würde sie gar nicht mehr da sein.

So wie ihr ergeht es vielen jungen Menschen. Der Verband Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie beobachtet einen drastischen Anstieg an Notfall-Konsultationen und sieht dringenden Handlungsbedarf. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat den Ernst der Lage erkannt und Finanzierung zugesichert. Vor wenigen Tagen hat die Kriseninterventionsstelle für suizidgefährdete Jugendliche – «Life» – der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich den Betrieb aufgenommen. «Die Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist angespannt. Wir verzeichnen eine starke Zunahme auf den Notfall-Stationen», sagt Maurizia Franscini, Leitende Ärztin und Projektverantwortliche.

Mit«Life» wird das psychiatrische Angebot für Jugendliche in Krisensituationen weiter ausgebaut. «Es ist wichtig, dass wir schnelle Hilfe anbieten können und keine unnötigen Wartezeiten entstehen.» Das Behandlungsangebot für 12-bis 17-Jährige erfolgt auf freiwilliger, niederschwelliger Basis. Die Jugendlichen werden durch ein interdisziplinäres Team intensiv begleitet. Die Betreuung dauert maximal drei Monate und kann je nach Bedarf stationär, tagesklinisch oder ambulant erfolgen. Schutz im Sinne von geschlossenen Türen sei oft nur kurz nötig. «Das Ziel ist es, Jugendliche in einer Krise aufzufangen und sie zu befähigen, ihre aktuellen Schwierigkeiten zu überwinden. Somit werden längere stationäre Aufenthalte verhindert, und sie können wieder in ihre Familien und Schule zurückkehren», erklärt Franscini.

Auch für die Eltern sei es schwierig, wenn ihre Kinder leiden und keine Freude mehr zeigen. «Sie machen sich oft Selbstvorwürfe und suchen die Fehler bei sich. Dabei wollen sie meist nur das Beste für ihr Kind, sind aber oft auch überfordert mit der Situation.» Darum sei es wichtig, dass gemeinsam an einem Tisch Lösungen gefunden werden.

Opfer – rund um die Uhr

Neben dem klinischen Angebot wird eine Präventionsstelle aufgebaut. Mit Informationen über Hilfsangebote für Betroffene und der gezielten Vernetzung von Fachpersonen. Auch der zentrale Notfalldienst wurde aufgestockt und ist rund um die Uhr telefonisch erreichbar. «Wie kann ich mich selber unterstützen? Was brauche ich? Hilfe zur Selbsthilfe ist ein entscheidender Ansatz», sagt Maurizia Franscini.

Sie stellt fest, dass die Jugend tendenziell weniger gut in der Lage ist, die Anforderungen der Gesellschaft zu packen. «Der Druck ist sehr gross, auch in der Schule.» Oft sitzen ihr weinende junge Frauen gegenüber, die dem Vergleichsdruck kaum noch standhalten können. «Wir wollen Social Media nicht verteufeln, aber es wird zum Problem, wenn es nur noch darum geht, die besten Posts zu machen und meisten Klicks zu bekommen.» Auch Cybermobbing sei ein grosses Thema. Die Jugendlichen werden im Netz von hasserfüllten Menschen abgewertet und bedroht. «Heute kann jede und jeder 24 Stunden am Tag ein potenzielles Opfer sein. Durch das Internet haben die jungen Menschen nicht mal mehr nachts ihre Ruhe, das ist extrem belastend.» Es sei daher nötig, offen über diese Themen zu sprechen und Aufklärung zu leisten. «Es müssen auch ganz klar die Konsequenzen von Cybermobbing aufgezeigt werden. Was passieren kann, wenn jemand gemobbt wird und was die Folgen sind, auch für die Täter, wenn es zur Anzeige kommt.»

Die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik zu den Suizidraten bei jungen Frauen unter 20 Jahren beunruhigen Experten. In den letzten Jahren vor der Pandemie waren es im Durchschnitt sieben Frauen unter 20, die durch Suizid verstarben. Im Jahr 2020 schnellte diese Zahl auf 17 hoch. Bei Frauen unter 25 Jahren waren es 33. «Junge Frauen verspüren den starken Wunsch, akzeptiert zu werden. Sie wollen es allen recht und alles richtig machen, doch das funktioniert nicht», sagt Franscini. Es sei notwendig, den Selbstwert zu stärken. «Sicherheit erfolgt auch durch zwischenmenschliche Beziehungen.» Durch die Pandemie und die Isolation habe sich die Situation verschlimmert.

Diese Entwicklung bereitet der Leitenden Ärztin Sorge. «Das Kindesalter sollte das schönste Alter sein, eine unbeschwerte Zeit. Dass viele Kinder und Jugendliche so früh leiden, ist schlimm.» Für sie ist klar: Körper und Psyche gehören zusammen. Genau wie man auf den Körper achtgebe, so solle man auch alles dafür tun, dass die Psyche gesund bleibe.

Weitere Informationen: Krisenintervention für Jugendliche – «Life» der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Heliosstrasse 32, Tel. 058 384 89 89

Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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