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Der Record Store Day vom 23. April rückt die Plattenläden wieder ins Zentrum. «Vinyl ist beliebter denn je», sagt Mike Widmer von Musik Hug.Bild: GH

Vinyl-Kult und neue Vielfalt

Von: Ginger Hebel

19. April 2022

Musik lässt sich heute einfach und überall aufs Handy laden und streamen. Liebhaber jedoch zelebrieren den Musikgenuss und greifen zur guten alten Schallplatte. «In der Pandemie ist der Vinyl-Boom kometenhaft angestiegen», sagt Mike Widmer von Musik Hug. Auch die junge Generation schätzt die Klangqualität.

Musik erfüllt den Raum. Wenn Schallplatten-Freak Dennis Walter nach Hause kommt, legt er als Erstes eine Platte auf. Zaghaft berührt er den Tonarm und senkt die Nadel mit dem Hebel vorsichtig auf die Platte. «Vinyl bedeutet für mich entschleunigter Genuss. Die Klangqualität ist erstklassig.» 10 000 Singles und Alben umfasst seine Sammlung, sie ist ihm heilig, darunter sind Raritäten, Originale aus den 60ern und Musik von Saga oder Fleetwood Mac, die ihn durchs Leben begleitet. Mit den Platten verbinden ihn Erinnerungen.

Auch Mike Widmer ist ein Vinyl-Liebhaber. Seit über 30 Jahren arbeitet er in der Musikbranche, früher bei Jecklin, heute als Abteilungsleiter Tonträger und stellvertretender Filialleiter bei Musik Hug im Stammhaus am Zürcher Limmatquai. «Die Haptik, der Klang. Eine Vinylscheibe hat viel Faszinierendes.»

Besonders samstags tummeln sich in der Tonträgerabteilung bei Musik Hug auffallend viele Jugendliche und junge Erwachsene. «Gerade im Hip-Hop-Segment läuft derzeit unglaublich viel auf Vinyl.» Junge Künstler wie Billie Eilish und Harry Styles verkaufen sich derzeit besser auf Vinyl als auf CD. «Die Musik erlebt auf Vinyl eine andere Wertschätzung», findet Mike Widmer. Bei Sammlern spiele der Nostalgiefaktor eine entscheidende Rolle. Seit «Bohemian Rhapsody» im Kino lief, erfahren die Platten von Queen einen Verkaufsschub. «Der Vinyl-Boom ist in der Pandemie noch einmal sprunghaft angestiegen», sagt Mike Widmer.

Am 23. April findet zum 15. Mal der internationale Record Store Day statt. In den teilnehmenden Plattenläden, darunter bei Musik Hug, werden Platten verkauft, die anlässlich dieses Tages erscheinen. Nicht alle Läden sehen diesem Tag jedoch freudig entgegen, da limitierte Editionen nicht selten sofort zu horrenden Preisen im Netz angeboten werden. «Die Konkurrenz im Internet ist generell gross», betont Widmer. Umso wichtiger sei der Record Store Day, um Musikliebhaberinnen und -liebhaber zu motivieren, in einen Plattenladen zu gehen. «Vor Ort zu stöbern und nicht nur im Internet, das ist für uns ein wichtiges Zeichen.»

Presswerke unter Druck

Der Vinyl-Hype ziehe aber auch negative Seiten mit sich. «Ist eine LP ausverkauft, dauert es oft Monate, bis sie nachgedruckt werden kann. Das ist ein Problem, weil wir nicht wissen, was wir von der bestellten Ware erhalten.»

Die wenigen Presswerke sind überlastet und stehen massiv unter Druck. Rohstoffe wie Nickel und PVC sind knapp, Papier und Kartonagen für die Verpackung ist schwer verfügbar. Die Preise steigen. Das Studioalbum Sgt. Pepper von den Beatles kostet im Einkauf zehn Franken mehr. Das bedroht viele kleine Labels in ihrer Existenz. Auch Plattenläden verschwinden aus dem Stadtbild und mit ihnen ein Stück Kulturgeschichte. Letztes Jahr schloss mit Rec Rec einer der ältesten Plattenläden Zürichs.

Einer der Letzten und Grossen im Business ist Pedro von Zero Zero. Seit weit über 30 Jahren führt er einen Plattenladen auf dem Merker-Areal in Baden und an der Bäckerstrasse 54 im Zürcher Kreis 4. Abertausende Titel hat er auf Lager, Aktuelles, Nachpressungen und New Releases in allen wichtigen Genres. «Meine Liebe ist die Musik. Das Medium, wie ich sie höre, ist sekundär.» Stammkunden, Freaks, Touristen, Jung und Alt stöbern in seinem Fundus. Kürzlich bediente er Chinesen, sie kauften das «Polybahn-Lied» von Trio Eugster. Er sei immer wieder überrascht, worauf die Leute abfahren. «Es gibt Zeiten, da verkaufen wir alle drei Tage eine Platte von Kanye West, dann von Childish Gambino.»

Er ist keiner, der am Alten festhängt, auch das Neue begeistert ihn. Das Album von David Crosby, der dafür mit jungen Musikern zusammenarbeitete, oder die aktuelle Platte der Post-Punk-Band Fontaines D.C., Calexico oder Dirty Sound Machine. «Es gibt hervorragende Musik zu entdecken.» Früher, betont er, seien Plattenverkäufer Könige gewesen, die den ganzen Tag Empfehlungen abgaben. «Heute ist die Netzabhängigkeit sehr gross.» Der Rohstoffmangel bereitet ihm Sorgen. «Es ist eine beängstigende Entwicklung, könnten keine neuen Scheiben nachgedruckt werden.»

Mike Widmer hat den Wandel miterlebt. In den Achtzigern wurde die heissgeliebte Platte erst von der CD, später vom MP3-Format und schliesslich vom Streaming verdrängt. Derzeit erfasst die Retrowelle auch die Musikwelt. Nebst der Vinylplatte ist die Musikkassette wieder gefragt. «Immer mehr Musiker bringen ihre Songs wieder auf Kassetten heraus. Vielleicht erleben auch CDs irgendwann wieder einen Boom.»

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

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