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Wenn die kleine Lara Pferde streichelt, geht es ihr gut
Von: Ginger Hebel
Lara aus Zürich-Altstetten ist eine aufgestellte Sechsjährige. Ihre Krankheit sieht man ihr auf den ersten Blick nicht an. Sie hat das seltene Phelan-McDermid-Syndrom – ein genetischer Defekt, der sich in gestörter Sprachentwicklung und körperlichen Merkmalen zeigt. Sieben Fälle sind schweizweit bekannt.
Lara lacht. Wenn sie mit Pferden zusammen ist, vergisst die Sechsjährige die Welt um sich herum. Sie beobachtet die Tiere, streichelt, pflegt und füttert sie. Die Verbindung zu den Pferden, sie tut ihr gut. «Wenn Lara auf dem Rücken des Pferdes sitzt, gelingt es ihr sogar, einen Ball zu fangen, was sie sonst nicht kann», freut sich ihr Mami Ina Albert. Lara hat das Phelan-McDermid-Syndrom, auch Deletion 22q13 genannt; ein seltener genetischer Defekt. PMD-Betroffenen fehlt ein Segment am Ende des langen Armes des Chromosom 22. In der Schweiz sind gerade einmal sieben Fälle bekannt, im gesamten deutschsprachigen Raum 104. Weltweit sind rund 3000 Menschen betroffen. Viele Kinder zeigen eine gestörte Sprachentwicklung und körperliche Merkmale wie grosse Hände und Füsse sowie eine längliche Kopfform.
Lange schien alles normal
Seit Lara dreijährig ist, besucht sie das heilpädagogische Reiten. «Sie macht enorme motorische Fortschritte. Es ist erstaunlich», sagt ihre Mutter. Dass Lara krank ist, wussten die Eltern lange nicht. Das Mädchen schien gesund, entwickelte sich in vielen Bereichen jedoch zögerlich, besonders im Vergleich zu anderen Kleinkindern. Ina Albert konfrontierte den Kinderarzt mit ihren Sorgen. «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», beruhigte er sie und schickte sie mit der Kleinen nach Hause.
Mit zwei Jahren sprach das Kind noch immer nicht, entwickelte keine Lautsprache. Es folgten Abklärungen bei Logopäden und Neurologen. Man schickte die Familie von Spezialist zu Spezialist. Erst als das Mädchen einen Fieberkrampf erlitt, wurden genetische Abklärungen eingeleitet. Die Eltern mussten sich oft monatelang gedulden, bis Resultate vorlagen. «Die langen Wartezeiten waren kräfteraubend.»
Die Diagnose – ein Schock für die kleine Familie. «Sie nahm uns die Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde.» Weil Lara eine seltene Krankheit hat, konnten sie sich auch nicht so leicht darüber informieren. Erst dank eines interdisziplinären Austausches an der Uniklinik in Ulm wurde das Krankheitsbild für die Eltern greifbar.
Die gebürtige Deutsche Ina Albert, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften arbeitet, engagiert sich als Vorstandsmitglied im Verein Phelan-McDermid-Gesellschaft. Sie organisieren Aktivitäten und Treffen, betreuen Facebook-Gruppen und vernetzen Betroffene aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. «Der Austausch ist sehr hilfreich, weil man auch mal direkt fragen kann, was hilft deinem Kind, was kann es? Was tut ihm gut?» Auch ist sie Mitglied beim Schweizer Förderverein KMSK für Familien mit seltenen Krankheiten. Durch die Phelan-McDermid-Gesellschaft hat sie eine andere Mutter kennen gelernt, deren Kind ebenfalls betroffen ist. Sie wohnt ganz in der Nähe in Albisrieden. Die Mädchen mögen sich, brauchen aufgrund ihrer Entwicklungsverzögerungen jedoch länger, um Kontakt aufzubauen. Weil Laras Lautsprache nur rudimentär entwickelt ist, greift die Familie auf unterstützte Kommunikation zurück. Ina Albert und ihr Partner Stefan Schönenberger besuchen Kurse für Gebärdensprache, auch Piktogramme kommen zum Einsatz. Durch das Zeigen auf grafische Symbole kann sich ihre Tochter besser mitteilen.
Nie aus den Augen lassen
Lara ist ein aufgestelltes Kind mit grossem Bewegungsdrang. Es springt gerne Trampolin und liebt die Kinderküche. «Lara braucht viel Aufmerksamkeit, man darf sie nie aus den Augen lassen, weil sie Gefahren nicht richtig einschätzen kann», sagt Ina Albert. Wenn sie vom heilpädagogischen Kindergarten nach Hause kommt, wird gemeinsam gekocht. Sie schneidet Gurken und Tomaten für den Salat. «Nur alleine spielen kann sie nicht, sie braucht uns.» Der Familienalltag ist herausfordernd. Die Mutter musste beruflich zurückstecken, sie arbeitet noch 60 Prozent. Ina und Stefan sind seit dreizehn Jahren ein Paar. Der Stadtzürcher arbeitet als Bauführer. Die Krankheit stellt ihre Beziehung auf den Prüfstand. Doch mit dem Schicksal hätten sie beide nie gehadert. Sie sind überzeugt: «Man bekommt, was man verkraften kann.»
Lara wird ihr Leben lang pflegebedürftig sein. Im jungen Erwachsenenalter leiden zudem viele PMD-Betroffene an epileptischen Anfällen, Demenz und psychiatrischen Störungen, was die Eltern-Kind-Beziehung erschweren kann. Die Eltern haben deshalb einen Wunsch: «Wir wünschen uns, dass Lara und wir lange eine innige Beziehung führen können und uns lieben.»
Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch
3 Fragen an Manuela Stier:
Sie haben 2014 den Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten KMSK gegründet. Warum ist Sensibilisierung wichtig?
Ein Ziel war und ist es, den betroffenen Familien ein Sprachrohr zu geben. Eine Mutter, die vor Kurzem ihre einjährige Tochter verloren hat, schrieb mir: «Unsere geliebte Arya ist von uns zu den Sternen gegangen. Das Wissensbuch vom Förderverein mit den verschiedenen Geschichten hat uns in den schweren Zeiten oft Kraft gegeben. Wir wussten genau, wir sind nicht alleine». Dies hat mich sehr berührt und gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
350 000 Kinder in der Schweiz haben eine seltene Krankheit. Sind seltene Krankheiten gar nicht so selten?
Es gibt ungefähr 8000 seltene Krankheiten, aber nur gerade fünf Prozent davon sind erforscht, 200 therapierbar. Als selten gelten Krankheiten, bei denen nur eine von 2000 Personen betroffen ist.
Was hilft betroffenen Familien?
Mitleid wünschen sich die Familien nicht, jedoch Verständnis. Dass man sie auch mal fragt, was das Kind hat, und nicht einfach wegschaut. Wir seitens des Fördervereins dürfen den Familien dank Gönnern schöne Erlebnisse schenken, ihnen Therapien und Auszeiten bezahlen, damit sie sich nicht alleingelassen fühlen.
Seltene Krankheiten
Über eine halbe Million Menschen, davon rund 350 000 Kinder und Jugendliche, sind in der Schweiz betroffen. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten KMSK unterstützt Familien und vernetzt sie. Neu erhältlich ist das dritte Wissensbuch "Seltene Krankheiten - Therapien und Unterstützung für die Familien". Alle Wissensbücher können als PDF kostenlos online abgerufen werden.
Informationen zum Phelan-McDermid-Syndrom:
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