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Porträt

Robert Kudlik mit seiner Frau Anna und Söhnchen Aron. Bild: Nicolas Y. Aebi

«Alles drehte sich nur noch um Zahlen und Einsparungen»

Von: Ginger Hebel

04. Februar 2014

Robert Kudlik arbeitete im Kader einer Grossbank, doch der Druck machte ihn beinahe krank. Er kündigte, heiratete seine junge Freundin und wurde mit 55 Vater. Jetzt will er als Fotograf durchstarten.

«Bist du verrückt geworden?», lautete die Standardfrage, als Robert Kudlik seinen Arbeitskollegen mitteilte, dass er seinen Kaderjob kündige und Vater werde. Doch seine Entscheidung war keine Kurzschlusshandlung, sondern gut überlegt. Er wollte etwas ändern in seinem Leben und wieder glücklich werden.

Viele Jahre teilte der 55-Jährige seinen Berufsalltag mit gefrusteten Bankern. Kaum jemand hatte den Mut, etwas an der Situation zu ändern, vielleicht den Job aufzugeben, zu gross die familiären und finanziellen Verpflichtungen, zu lähmend die Angst vor der Ungewissheit. «Es ist natürlich bequem, wenn Ende Monat das Geld auf dem Konto ist. Aber ich befürchtete, dass meine Seele stirbt, wenn ich bleibe», sagt Robert Kudlik.

Letzten Frühling kündigte er nach 27 Jahren seinen Job bei einer Zürcher Grossbank. Die Richtung, in die sich die Finanzbranche entwickelt hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht mehr. «Es drehte sich alles nur noch um Zahlen, Einsparungen, der Druck wurde immer grösser.» Seine Unzufriedenheit auch. «Mit 55 dachte ich mir, wenn ich nicht jetzt etwas ändere in meinem Leben, wann dann?» Eine Entscheidung zu treffen, fiel ihm nicht leicht. Mit seiner Frau Anna hat er das Dafür und das Dawider abgewägt. Anfangs war sie skeptisch. «Wir erwarteten unser erstes gemeinsames Kind, da macht man sich natürlich Gedanken, wie alles weitergeht, wenn er nicht mehr arbeitet», sagt Anna Kudlik.

Seit sechs Monaten bekommt ihr Mann nun keinen Lohn mehr – ein ungewohntes Gefühl. In der Schweiz definieren sich viele Menschen über den Beruf und das Gehalt. Robert und Anna Kudlik aber waren Statussymbole noch nie wichtig. «Wir sind bescheidene Menschen, ich habe nicht einmal ein Handy», sagt der Ex-Banker. Natürlich wäre er in der Lage, sich eines zu leisten, aber er will es aus Prinzip nicht. Die Vorstellung, jede Sekunde erreichbar zu sein, engt ihn ein. Im Job hatte er in dieser Beziehung eine Aussenseiterrolle, doch sein Leben funktionierte auch ohne Smartphone – seine Karriere auch.

23 Jahre Altersunterschied

Robert Kudlik wuchs in einer Universitätsstadt im Süden Ungarns auf. Sein Grossvater war ein bekannter Maler, die künstlerische Affinität liegt in der Familie. Weil seine Eltern nach Zürich zogen, folgte er ihnen 1980 und studierte hier Psychologie, Geografie und Fotografie. In den Semesterferien arbeitete er jeweils bei der Bank, bis man ihm einen festen Job anbot. «Ich wollte ihn nur ein, zwei Jahre machen und dann meine Künstlerkarriere vorantreiben, doch es wurden 27 Jahre. Dabei bin ich gar kein Büromensch.» Als er beruflich in Polen tätig war, lernte er die junge Bankangestellte Anna kennen und lieben. Nach zwei Jahren musste er zurück nach Zürich. Anna mochte ihr Leben in Polen, sie hätte Karriere machen können, doch für die Liebe verliess sie die Heimat. «Ich bereue es nicht», sagt sie prompt, auch wenn sich nicht verleugnen lässt, dass es ihr hier manchmal etwas schwerfällt. «In Polen sind die Leute zugänglicher. Bei der Arbeit spricht man mehr miteinander und unterstützt sich. Hier habe ich andere Erfahrungen gemacht, auch das Konkurrenzdenken ist grösser. Man findet nur mit Mühe neue Freunde.»

Seit fünf Jahren sind Robert und Anna ein Paar. Er ist stolz auf seine Frau, die mit ihren 32 Jahren ganze 23 Jahre jünger ist als er. Gestört hat die beiden der grosse Alters­unterschied bisher nie, auch sei die berüchtigte Midlife-Crisis kein Grund gewesen, warum er seinen Job an den Nagel gehängt und sein Leben radikal geändert habe. «Klar existiert dieses Klischee. Aber es trifft auf uns nicht zu; ich bin weder vermögend noch gut aussehend. Was war es denn eigentlich, Schatz?», fragt er seine Frau, und sie entgegnet lächelnd: «Dein Charme.» Letzten Oktober wurde ihre Liebe mit einem gemeinsamen Baby gekrönt. Vater werden mit über 50, das hätte Robert Kudlik früher als unverantwortlich angesehen, doch jetzt ist er zutiefst dankbar für das Glück, das ihm widerfahren ist, die beiden hätten gern noch ein zweites Kind. «Ich kann Aron aufwachsen sehen und seine Entwicklung miterleben, Tag für Tag, und nicht erst spät abends nach der Arbeit. Welcher Vater hat schon diese Möglichkeit. Darüber bin ich sehr glücklich.»

Nie zu spät für einen Neuanfang

27 Jahre lassen sich nicht aus dem Leben streichen, das möchte Kudlik auch nicht. «Es waren viele gute Jahre, bis es anfing zu kriseln», sagt er. Seine Entscheidung, zu kündigen und die Branche zu wechseln, hat er bisher noch nicht infrage gestellt. Er fühlt sich gut, freier. «Es ist nie zu spät, um noch mal von vorn anzufangen», ist er überzeugt. Man müsse den Neuanfang nur wirklich wollen und den Mut haben, ein gewisses Risiko einzugehen und die Ungewissheit auszuhalten. Vor 25 Jahren hat Robert Kudlik seine ersten Fotoarbeiten ausgestellt, besass sogar eine Kunstgalerie. Künftig möchte er mit der Fotografie seine Brötchen verdienen, Wände von Wohnungen und Büros mit seiner Kunst verschönern, Ausstellungen und Workshops organisieren. Auch Anna möchte sich später als Künstlerin etablieren, sie gestaltet Schmuck aus der Modelliermasse Fimo.

Robert Kudlik wünscht sich, dass sein Sohn gesund und die Frau zufrieden bleiben. Zukunftsängste hat die kleine Familie nicht. «Wir denken viel darüber nach, ob alles gut kommt, ob wir das hinkriegen, auch mit dem Altersunterschied. Aber wir haben uns dazu entschlossen und gehen den Weg gemeinsam.» 

Am 13. März, von 19 bis 21 Uhr, findet die Vernissage von Robert Kudlik im Ortsmuseum Wiedikon statt. Infos zu seinen Arbeiten: foto.robi@hispeed.ch

Lebensgeschichten gesucht: Haben Sie einen Schicksalsschlag erlitten? Hatten Sie eine schwierige Jugend oder einen folgenschweren Unfall? Oder haben Sie etwas Ausgefallenes erlebt? Ihre Geschichte interessiert uns. ginger.hebel@tamedia.ch

 

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Leserkommentare

John Skelt - Starker Mann, wirklich stark, er konnte sich von der Sklaverei befreien. Es verhungert eh niemand in diesem Land. Aber nur Wenige sind mutig, sich zu befreien und nicht blind in der Wassermühle weiter zu fahren.

Vor 10 Jahren 7 Monaten  · 
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