Porträt
Eine Krankheit, die langsam die Freiheiten raubt
Von: Ginger Hebel
Krankheit: Die Zürcherin Yolanda Aebischer lebt seit über 30 Jahren mit Multipler Sklerose. Ihre Kinder waren zwei- und vierjährig, als ihr Mami an MS erkrankte.
Sie wollte reden, sich mit ihren Mitmenschen austauschen, doch plötzlich fiel ihr das gesuchte Wort nicht mehr ein. In den Gesprächen entstanden immer mehr unfreiwillige Pausen. Manchmal sah sie Doppelbilder und litt an Empfindungsstörungen an den Beinen und im Gesicht, an anderen Tagen überkam sie eine bleierne Müdigkeit, gegen die sie kaum anzukämpfen vermochte. Yolanda Aebischer leidet an Multipler Sklerose, kurz MS. Eine Krankheit, die derart vielschichtig ist, dass jeder Patient sie anders erlebt. Auch die Symptome sind individuell. Wenn ein Schub besonders stark ist, wird er mit einer Cortison-Infusion behandelt.
Im Alter von 35 Jahren – Yolanda Aebischer war Mutter zweier kleiner Kinder – verlor sie immer häufiger das Gleichgewicht und kippte beim Bücken auf die rechte Seite. Sie liess sich im Spital durchchecken, suchte Rat beim Neurologen. Die Diagnose MS liess sie zusammenzucken, auch wenn sie damals noch sehr wenig über die Krankheit wusste. «Ich war total verunsichert», erinnert sie sich. Wie sieht meine Zukunft aus? Ist MS heilbar? Sitze ich eines Tages im Rollstuhl? Viele Fragen gingen ihr durch den Kopf.
Schwindende Kräfte
Bei rund 80 Prozent der MS-Betroffenen zeigen sich erste Symptome im Alter von 20 bis 40 Jahren. Die entzündliche Erkrankung des Nervensystems kann schwere Beeinträchtigungen hervorrufen. Rund 15 000 Menschen sind in der Schweiz betroffen. Im Laufe der Zeit kamen auch bei Yolanda Aebischer neue Symptome hinzu, die ihre Lebensqualität einschränkten. Bis zu jenem Zeitpunkt war sie eine aktive Frau, die das Leben und seine Möglichkeiten liebte. Gemeinsam mit ihrem Mann machte sie viele Wanderungen, Langlauf- und Skitouren, und sie leitete mit Freude eine Nordic-Walking-Gruppe. Auch der Beruf machte ihr Spass. Sie arbeitete für die Migros im Einkauf. Nach der Geburt der Kinder hing sie den Job an den Nagel und ging in der Rolle der Hausfrau auf.
Während andere Mütter mit ihren Buben Fussball spielten, musste Yolanda Aebischer passen, weil ihr die Kraft dazu fehlte. Für ihre Kids war das normal, sie kannten ihr Mami nicht anders. Ihr Mann unterstützte sie. Beharrlich wollte er von den Ärzten wissen, was diese Krankheit, die ihnen als Paar immer mehr Freiheiten zu rauben drohte, mit seiner Frau macht. Doch als die Kinder aus dem Haus waren und die Krankheit weiter voranschritt, wurden die Probleme in der Ehe grösser, bis die Beziehung schliesslich zerbrach. Je trauriger Yolanda Aebischer war, desto schlechter ging es ihr auch körperlich. An ihrem seelischen Tiefpunkt konnte sie sich nur noch mit dem Rollator fortbewegen.
Angst vor Ungewissheit
Sie erzählt viel von früher, obwohl sie weiss, dass die Vergangenheit ein nicht mehr zu erreichendes Universum ist. «Diese Krankheit erinnert mich immer an die Dinge, die ich früher konnte und heute nicht mehr kann.» Yolanda Aebischer mag die Tage lieber als die Abende und Nächte. Mit der einbrechenden Dunkelheit werden oft auch ihre Gedanken dunkler. Dann wächst die Angst vor der Ungewissheit, die Angst vor einem Leben im Rollstuhl. MS ist nicht heilbar. Niemand weiss, wie sich die Krankheit entwickelt. Die Schweizerische MS-Gesellschaft bietet eine Vielzahl von verschiedenen Unterstützungs- und Entlastungsangeboten an. Sie vernetzt Betroffene und zählt Regionalgruppen, die regelmässig Unternehmungen planen; Kafi-Treffs, Grillabende, Ausflüge in die Natur, sogar gemeinsame Ferien stehen auf dem Programm. Doch die Corona-Krise liess viele Aktivitäten vorübergehend einschlafen. Yolanda Aebischer freut sich, bis sie das Angebot wieder nutzen kann. «Der Austausch mit Betroffenen ist für mich Gold wert.»
Selbstständigkeit zählt
Die 66-Jährige führt trotz ihrer Krankheit ein selbstbestimmtes Leben. Sie wohnt alleine in einer Genossenschaftswohnung in Zürich-Albisrieden. Das Gehen bereitet ihr zwar Mühe, doch sie kann wieder ohne Gehhilfe spazieren gehen. Wenn sie Elan verspürt, ist ihre Haltung aufrechter als sonst. «Es ist mir wichtig, meinen Alltag alleine meistern zu können.» Tabletten halten ihren Gesundheitszustand stabil. Sie besucht Physiotherapien und schwört auf die sogenannte Hippotherapie. Auf dem Rücken der Pferde fühlt sie sich gut, die Bewegungen lockern ihre gesamte Muskulatur. «Nach jedem Training kann ich viel besser gehen», erzählt sie freudig. Die Natur und die Pferde, sie tun ihr gut.
"Symptome bei einer MS sind äusserst vielseitig und individuell"
Multiple Sklerose hat viele Gesichter. Bei welchen Symptomen sollten die Alarmglocken schrillen?
Susanne Kägi: Die Symptome bei einer MS sind äusserst vielseitig und individuell. Es handelt sich um eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Entsprechend haben die Symptome etwas mit den Nerven zu tun. Oft genannt werden Seh- und Sensibilitätsstörungen. Aber auch Gehstörungen, Spastik, Schmerzen, Depressionen, Blasenstörungen und starke Erschöpfung, die sich mit Schlaf nicht kompensieren lässt und Alltagstätigkeiten unmöglich machen kann. Treten zum Beispiel Sehprobleme oder ein unerklärliches Kribbeln über mehrere Tage auf, für die es keinen anderen Grund gibt? Wenn man sich Sorgen macht, sollte man den Hausarzt darauf ansprechen.
Jeden Tag erhält eine Person in der Schweiz die Diagnose MS. Welche Behandlungsmethoden sind effektiv?
MS ist eine unheilbare Krankheit, die sich nicht stoppen oder verhindern lässt. Es stehen aber immerhin zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die den Verlauf lindern und entsprechend verlangsamen können. Neben Medikamenten stehen zudem anerkannte Behandlungsmethoden zur Auswahl, wie Psychotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie oder Hippotherapie. Letztere lässt sich vereinfacht als Physiotherapie auf dem Rücken der Pferde beschreiben.
Warum sind mehr Frauen als Männer von Multipler Sklerose betroffen?
Auf jeden MS-betroffenen Mann kommen drei weibliche Betroffene. Die Gründe hierfür kennen wir nicht. Frauen und Männer unterscheiden sich aber sowohl hormonell als auch vom Immunsystem her. Allgemein ist die Zahl der MS-Betroffenen in den letzten 30 Jahren um 50 Prozent auf 15 000 gewachsen. Diese Zunahme ist bei Frauen unter 65 am stärksten.
Ist die Krankheit vererbbar?
Man weiss nicht, wieso MS entsteht oder was eine MS auslöst. Es gibt sicherlich eine genetische Komponente, das heisst: Das Risiko zu erkranken ist leicht höher, wenn nahe Verwandte MS haben. Wahrscheinlicher ist jedoch eine Mischung aus genetischen Faktoren sowie Umwelteinflüssen und unbekannten Faktoren. Trotzdem ist eine MS-Erkrankung allein kein Grund, auf das Kinderhaben zu verzichten.
Bedeutet Multiple Sklerose eines Tages ein Leben im Rollstuhl?
Nein, das ist bei der Hälfte der Betroffenen nicht der Fall. Man sollte allerdings schon damit rechnen, irgendwann im Verlauf der Erkrankung zumindest zeitweise auf Gehhilfen oder einen Rollstuhl zurückgreifen zu müssen, aber nicht immer bleibt eine Geh-Einschränkung dauerhaft bestehen. Viele Betroffene haben zwar einen Rollstuhl zur Entlastung, gehen aber öfter auch kurze Strecken zu Fuss.
Hat die Psyche einen Einfluss auf die Krankheit?
Vor allem auf den Umgang mit der Krankheit und auf die Lebensqualität. Betroffene können auch trotz Einschränkungen durch die MS ein wertvolles Leben führen. Eine stabile psychische Verfassung, zu der auch ein positives soziales Umfeld gehört, beeinflusst die allgemeine Gemütslage wesentlich. Ein positiver Umgang mit MS ist aber leichter gesagt, als getan. Wir sind für Betroffene und Angehörige da und unterstützen sie dabei.
Am 30. Mai findet der Welt-MS-Tag statt. Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft vernetzt Betroffene und bietet Beratungen mit Fachpersonen an.
Gratis-MS-Infoline: 0844 674 636
Telefon-Beratung: 043 444 43 43
Mail-Beratung: info@multiplesklerose.ch
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