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Porträt

Der Altdeutschen Schäferhund heute. Er hat sich von den Strapazen der Vergangenheit sehr gut erholt. (Bilder: PD)

Eine zweite Chance für Lio

Von: Christian Saggese

09. Februar 2021

Schäferhund Lio wurde in einer «Welpenfabrik» im Ausland geboren. Eine Zürcherin bestellte ihn via Internet zu sich nach Hause. Gesundheitlich angeschlagen kam er in die Schweiz, die Käuferin verlor das Interesse. Dank dem Zürcher Tierschutz und den neuen Besitzern führt der Frechdachs wieder ein fast normales Leben. 

Lio liebt es, zu baden. Am liebsten springt der junge Hund dafür in der Thur herum. Er ist aber auch ein kleiner Spielfuchs. Wirft seine Besitzerfamilie Leuthold den Stock, gibt es für den Altdeutschen Schäferhund kein Bremsen mehr.

«Ein ganz normaler Hund eben», mag sich so mancher denken. Doch für Lio ist dieses schöne Leben keine Selbstverständlichkeit. Er ist Teil einer tierverachtenden Maschinerie. Seine erste Besitzerin bestellte den damals erst etwa acht Wochen jungen Welpen per Internet zu sich nach Hause. Einige Klicks genügten dafür. Wie in gewöhnlichen Online-Shops kann auf gewissen Internetseiten ein Tier nach verschiedenen Kriterien, wie der Rasse und dem Geschlecht, ausgesucht werden. Dann wird das Lebewesen (!) in den Warenkorb gelegt, fertig. Kurze Zeit später klingelt es an der Haustür, ein Kurier steht da, übergibt den Hund und nimmt bar die Bezahlung entgegen. Das wars. So kam Lio nach Zürich.

 


Möglich ist dieses traurige Geschäft durch Massenzucht-Anlagen im Ausland. Wo diese exakt stehen, ist nicht so genau bekannt. Die Spuren der Ermittler führen aber meist nach Osteuropa. Rommy Los, Leiter des Zürcher Tierschutzes, weiss von diesen Machenschaften: «Wir alle kennen die Bilder von Pelzfarmen, wo die Tiere auf engstem Raum dahinvegetieren. In diesem Fall handelt es sich aber um Hunde. Die Mütter werden nach jedem Wurf gleich wieder gedeckt bis zur Erschöpfung. Auch Tiere mit Erbschäden werden nicht von der Zucht ausgeschlossen. Zusätzlich leiden viele Eltern- und Junghunde wegen mangelnder Hygiene an Krankheiten.Die Neugeborenen werden nach wenigen Wochen den Eltern entrissen und in Boxen gesteckt. Und von dort aus werden sie viel zu früh ins Ausland transportiert, auch regelmässig in die Schweiz.»

Kommen die Tiere bei den neuen Besitzern an, sind sie oft in einem miserablen gesundheitlichen Zustand. Wie Lio. «Er war schwach, hatte kaum Muskulatur», weiss Rommy Los. Die Frau, die ihn bestellte, wollte den Schäferhund dann doch nicht. Wenige Tage später wurde er im Tierheim des Zürcher Tierschutzes abgegeben. «Leider kein Einzelfall bei uns», so Rommy Los, der das Tierhaus leitet.

Mit kleinen Schritten

Nun stand Lio also da, schüchtern und verängstigt, in einer Welt, die er bis jetzt nicht kennenlernen durfte. Und doch waren sie zu spüren, der Kampfgeist und die Neugierde, die Lio in sich trug. Melanie Hug, Tierpflegerin im Tierhaus Zürich, nahm sich dem Schäferhund an. «Ich durfte ihm die Welt zeigen», erzählt die 28-Jährige. Denn: «Im Idealfall wird ein Welpe in den ersten drei Monaten nicht von der Mutter getrennt. Die sogenannte Prägephase ist enorm wichtig für die Sozialisierung. Hunde lernen dann nicht nur, mit Artgenossen umzugehen, sondern entdecken die Welt mit all ihren Facetten, mit allen Düften und Geräuschen. Diese Dinge in einer späteren Lebensphase nachzuholen, ist oft sehr schwierig.»

Melanie Hug nahm Lio mit nach Hause. Anfangs trug sie das Jungtier in einem Hunde-Rucksack herum. So konnte er die Aussenwelt beobachten, gleichzeitig war es aber auch eine körperliche Entlastung: «Lio hatte damals einen sehr taumelnden Gang und konnte sich nicht lange auf den Beinen halten.» Täglich trainierten die beiden miteinander. «Anfangs spazierten wir zehn Minuten, dann immer ein wenig länger. Das An-der-Leine-Laufen haben wir ebenso geübt, wie kleine Hindernisse zu überwinden.» Nach vier Wochen war sichtlich erkennbar, dass sich die Muskulatur von Lio aufbaute, der schwammige Gang verschwand.

In dieser Zeit lernte er dank Melanie Hugs eigenem Hund Trap auch das soziale Zusammensein kennen. «Anfangs musste ihn Trap ab und an in die Schranken weisen. Doch innert kurzer Zeit verstanden sie sich super.»

 

 

Zwei Momente bleiben Melanie Hug besonders in Erinnerung. Der erste Moment war, als Lio am Hauptbahnhof Zürich erstmals Sitz machte: «Trotz der vielen Menschen und dem Lärm blieb er ganz ruhig, beobachtete die Menge. Da zeigte sich sein neues Selbstbewusstsein.» Hierfür sei es auch hilfreich, «dass er von Anfang an eigentlich sehr mutig war». Der zweite unvergessliche Moment war, als er seine Angst vor den öffentlichen Verkehrsmitteln etwas verlor: «Schlief er zu Beginn oft aus Erschöpfung in seinem Rucksack ein, traute er sich mit der Zeit immer mehr raus und fand es plötzlich ganz lässig, aus dem Zugfenster die Welt zu beobachten.»

Lio war also auf dem Weg der Besserung. Es wurde Zeit, ihn einer neuen Familie anzuvertrauen.

Zurück ins Leben

Es war eine Kollegin von Melanie Hug, die sich in Lio vernarrte und ihrem Vater empfahl, den Vierbeiner zu adoptieren. Marcel Leuthold schenkte schon so manchem Hund ein warmes Zuhause. Auch solchen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, wie bei seinem früheren Wegbegleiter Caddy, einem Cocker Spaniel Mix, der mit nur drei Beinen durchs Leben gehen musste. «Nachdem wir Lio mehrfach besucht hatten und klar wurde, dass er sich mit unserem Golden Retriever Buddy versteht, haben wir ihn bei uns aufgenommen», so der 58-Jährige. Das war letzten Mai. Heute ist Lio elf Monate alt und hat sich bestens in seinem neuen Zuhause im Zürcher Weinland eingelebt. «Wer seine Geschichte nicht kennt, wird auf den ersten Blick sagen, dass es ein ganz normaler Hund ist.»

Fakt ist aber, dass es noch immer Momente gibt, die zeigen, dass Lio seine erste Lebenszeit nicht in einem gesunden Umfeld verbrachte: «Er zeigt ab und an Unsicherheiten in alltäglichen Situationen, die für einen einjährigen Hund eigentlich kein Problem sein sollten. Zudem versucht er immer, seinen oder auch fremden Kot zu fressen.» Auch die als Welpe verpasste Sozialisierung komme ab und an zum Vorschein: «Wir haben beispielsweise Katzen, die verstanden sich bisher mit jedem unserer Hunde, aber für Lio scheinen sie Ausserirdische zu sein, er versteht deren Verhalten gar nicht.» Zudem reagiere er oft überdurchschnittlich eifersüchtig, beispielsweise, wenn Marcel Leutholds Tochter mit ihrem Baby auf Besuch kommt. Und wenn der Vierbeiner etwas nicht darf, kann oder sonst nicht versteht, habe er ab und an richtige Frustmomente und möchte sich am liebsten bei seinem Hunde-Mitbewohner Buddy abrea­gieren.

«Grösstenteils ist Lio aber ein glücklicher Hund, der es unter anderem liebt, im Schnee zu tollen. Er ist ja auch erst knapp ein Jahr alt, da darf man sich pubertär verhalten. Wir haben glücklicherweise noch viel Zeit, mit ihm zu trainieren», so Leuthold. Es sei natürlich streng, «aber da lohnt sich jede Minute, wenn man die Fortschritte mitverfolgen kann, die er macht.» Auch seitens Hundeschule gebe es nur Komplimente für den schönen Schäfer.

Es bleibt zu hoffen, so Leuthold, dass die Schweiz und die EU den Tierschutz endlich ernster nehmen und etwas gegen diese Tierquälereien unternehmen: «Es muss doch möglich sein, solche Anlagen zu schliessen! Es mussten bereits genug Tiere leiden, wurden in Tierheime abgeschoben oder gar eingeschläfert, alles wegen laschen Gesetzen und dem Egoismus mancher Menschen.»

Glücklicherweise hat es zumindest für Lio ein Happy End gegeben. Die ganze Familie Leuthold hat den kleinen Racker ins Herz geschlossen. Und es bleibt zu hoffen, dass Lio die Narben seiner Vergangenheit bald komplett hinter sich lassen kann.

Weitere Informationen: www.zuerchertierschutz.ch

 

 

 

 

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