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Porträt

Der Tatort auf der Rampe der Hardbrücke im Kreis 4: Pascal M. bewahrte die deformierte Brille auf, die er in jener Nacht trug. Sie zeugt von der Brutalität, mit welcher die Täter damals vorgingen. Bild: PD

In der «Stunde der Idioten» schlugen die jungen Männer zu

Von: Sibylle Ambs-Keller

11. Februar 2020

«Überfall im Kreis 4 ... die Polizei sucht Zeugen.» Solche und ähnliche Meldungen sind in der Stadt Zürich fast an der Tagesordnung. Im Brennpunkt stehen indessen meist die Täter. Doch was ist mit den Opfern? Für sie ist die Tat ein Einschnitt in ihr Leben und weit mehr als nur eine Schlagzeile. Der Zürcher Pascal M. wurde in einer Januarnacht 2017 auf seinem Nachhauseweg über die Hardbrücke von einer Gruppe junger Männer überfallen und brutal zusammengeschlagen. Die physischen Verletzungen sind längst geheilt, die psychischen Folgen spürt er bis heute. 

Am späten Samstagabend, 18. Januar 2020, griff eine Gruppe Männer beim Stadelhoferplatz zwei Personen an und verletzte eine davon schwer. Gemäss Polizei wurde das Opfer mit einer Stichwaffe angegriffen und musste im Anschluss notoperiert werden. Der Tathergang ist unklar, die Polizei sucht Zeugen.

Dies ist nur einer der Vorfälle, die regelmässig in den Schlagzeilen auftauchen und von der Stadtpolizei via Medienmitteilung publiziert werden. Sieht man sich die Kriminalstatistik der Stadt Zürich an, bewegt sich die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren auf einem konstanten Level: Im Jahr 2013 wurden 896 Fälle von einfacher Körperverletzung aufgenommen, 2018 waren es 824 Fälle. Ähnlich sieht es aus bei schwerer Körperverletzung oder Raub. Kein markanter Anstieg in diesen Bereichen. Was auf den ersten Blick positiv klingt, ist beim zweiten nicht mehr ganz so erfreulich, denn hinter jedem einzelnen Fall steht ein Schicksal.

Jedes dieser Vergehen hinterlässt Opfer. Opfer, die sich nicht um Statistiken scheren, denn sie haben andere Prioritäten. Zum Beispiel das Aufstehen und Weitermachen nach einem solchen Erlebnis. Nicht nur in physischer Hinsicht, vor allem psychisch steht ein langer Weg an, bis wieder so etwas wie Normalität im Alltag eines Opfers einkehrt. Und oft ist diese sogenannte Normalität weit entfernt vom früheren Lebensstil und seelischen Gleichgewicht.

Pascal M. (Name der Redaktion bekannt) ist eines der Opfer aus der Polizeistatistik 2017. Heute, fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem Angriff auf ihn, ist die Tat immer noch sehr präsent und vieles in seinem Leben anders als «davor».

Er rechnete mit nichts Bösem
Der 48-jährige Pascal M. besucht gerne kulturelle Anlässe, ist oft unterwegs mit Kollegen. Das steht auch am Freitagabend, dem 13. Januar 2017, auf dem Programm. Er verbringt einen netten Abend im Helsinki Klub auf dem Gerold-Areal im Kreis 5. Amüsiert sich mit Freunden, trinkt ein paar Bierchen. Später werden 0,7 Promille bei ihm festgestellt werden.

Gegen 2 Uhr 20 macht er sich zu Fuss auf den Heimweg. Es schneit, er ist dick eingepackt mit Wintermantel, Mütze und Lederhandschuhen. Das sollte sich noch als Glücksfall erweisen. Sein Heimweg dauert knappe zehn Minuten, er muss lediglich auf die andere Seite der Hardbrücke laufen. Auf dem Fussgängerweg, der Richtung Hohlstrasse hinuntergeht, kommt ihm eine Gruppe junger Männer entgegen. Er muss sie kreuzen und rüstet sich insgeheim ein bisschen. Er streckt den Rücken durch, rechnet aber mit nichts Bösem.

Als er die Gruppe erreicht, tritt einer vor und fragt Pascal M. um eine Zigarette. Pascal sagt später, es sei eine Frage gewesen, mit der er gerechnet habe. Nicht aber mit dem, was sogleich folgt: Noch bevor er eine Antwort formulieren kann, wird er von einem Zweiten aus der Gruppe von hinten am Hals gepackt, die Füsse werden ihm unter dem Körper weggetreten.

Noch auf dem Weg zu Boden kassiert er den ersten Schlag ins Gesicht. Seine Brille fliegt weg, und sofort wird ihm klar, dass es hier nicht um Zigaretten geht. Pascal M. weiss nicht, ob sie zu dritt oder zu viert sind, er spürt zahllose Fusstritte und Faustschläge am ganzen Körper. Immer wieder zielen die Täter auf seinen Kopf. Pascal M. ist einzig darauf fokussiert, diesen mit den Armen zu schützen. Er will nicht das Bewusstsein verlieren. Er liegt inzwischen auf dem Bauch, schreit um Hilfe und hofft, irgendwie lebend da rauszukommen.

Wie lange das Ganze dauert, wird er später nicht sagen können. Irgendwann lassen die Schläger ab von ihm und machen sich zu Fuss auf den Weg Richtung Bahnhof Hardbrücke.

M. steht auf. Alles tut weh, er will nur noch nach Hause. Dass seine Brille, das Handy und die Hausschlüssel weg sind, realisiert er noch nicht. Er stolpert los und trifft einige Meter weiter auf zwei Raucher einer nahe gelegenen Bar. Sie halten ihn an und übernehmen die Erstversorgung. Da realisiert Pascal M., dass er blutüberströmt ist. Die Helfer rufen die Polizei, die kurze Zeit später zusammen mit den Sanitätern eintrifft.

M. wird in eine Decke gewickelt und befragt. Er muss einen Alkoholtest machen, und die Sanitäter nehmen eine Blutprobe fürs Drogenscreening. Danach wird er ins Triemlispital gebracht, wo später eine gebrochene Nase, eine Schädelprellung, angerissene Nieren und zahlreiche blaue Flecken festgestellt werden. Der dicke Wintermantel und die Handschuhe haben noch Schlimmeres verhindert. Beide Kleidungsstücke muss er noch in der Nacht der Polizei übergeben für die Spurensicherung.

Horror, Wut und Machtlosigkeit
Heute, drei Jahre später, sitzt Pascal M. in seinem Büro und erzählt die Fakten in relativer Ruhe. Relativ, weil sich sein Körper bei der Schilderung der Tat verspannt, seine Stimme auch heute noch den Horror, die Wut und die Machtlosigkeit jener Tage nicht verbergen kann. «Die Spurensicherung ergab nichts. Auch konnte ich den Täter, der mich angesprochen hat, nicht einwandfrei auf Fotos identifizieren. Bilder von Überwachungskameras waren bereits gelöscht, kurz, die Suche verlief im Sand.»

Seine physischen Verletzungen begannen zu heilen, nach zwei Wochen konnte er wieder Brille tragen. Doch die psychischen Folgen spürt Pascal M. bis heute. «Ich überlege mir zweimal, ob ich wirklich an diesen oder jenen Anlass gehen soll. Je nachdem, wie ich mich fühle, bleibe ich lieber zuhause.»
Auch geht er nach Möglichkeit nicht mehr alleine heim. «Ich organisiere mir jemanden, der mich begleitet.» Und er achtet darauf, spätestens um zwei Uhr morgens zuhause zu sein. «Zwischen zwei und drei Uhr ist die Stunde der Idioten, so sagt man, und so habe ich es am eigenen Leib erfahren.»
Denkt Pascal, dass er die Tat irgendwie hätte verhindern können? «Nein, ich kann mir keine Vorwürfe machen. Es wäre besser, wenn ich es könnte, denn das würde bedeuten, dass ich beim nächsten Mal etwas anders oder besser machen kann. So ist aber die einzige Möglichkeit, mich nicht mehr in Gefahr zu begeben, daheim zu bleiben.»

Pascal M. hat die gutgemeinten Ratschläge, einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen oder einen Pfefferspray mitzuführen, bis jetzt nicht in die Tat umgesetzt. «Kurz nach der Tat dachte ich, meine Angst und Verunsicherung wird sich irgendwann legen.» Heute rechnet er nicht mehr damit. «Ich bin viel schreckhafter geworden, zucke zusammen, wenn irgendwelche Typen in meiner Umgebung etwas lauter werden. Ich bin misstrauisch, wenn mich einer wegen Feuer anspricht.» In solchen Momenten wünscht er sich die Gutgläubigkeit vor der Tat zurück. «Ich hatte eine gewisse Unschuld, vertraute darauf, dass mir so etwas nicht passiert.»

Der Vorfall in der Nacht vom 13. auf den 14. Januar 2017 erscheint in der Polizeistatistik unter der Rubrik «Raub einfach» und war einer von 189 Fällen, die in diesem Jahr in der Stadt Zürich gemeldet wurden. Die Aufklärungsrate bei Raub liegt gemäss Statistik bei 47,1 Prozent. Im Gegensatz zu Vergehen mit minder schwerer Gewalt, wie zum Beispiel einfache Körperverletzung, müssen Täter bei Raub mit einem höheren Strafmass rechnen, wenn sie denn gefasst werden.

Es besteht wenig Anlass zur Hoffnung, dass das im Fall von Pascal M. noch passiert. Für ihn hat sich aber auf den Strassen Zürichs in den vergangenen Jahren etwas geändert. «Ich finde die Gewaltbereitschaft beängstigend. Es gibt Menschen, die so einfach ihren Frust ablassen wollen. Ich denke, die Art der Gewalt ist eine andere geworden. Man hört nicht auf, wenn das Opfer am Boden liegt. Im Gegenteil: Damit geht es heute erst richtig los.»

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