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Porträt

Der Tod seiner Frau und der Jobverlust liessen Sandro vereinsamen. Bild: iStock

Sandros Weihnachtswunder

Von: Sacha Beuth

23. Dezember 2019

Seit mehreren Jahren ist der ehemalige Buchhalter Sandro arbeitslos. Seine Frau ist gestorben, seine Tochter und seine Enkelin sieht er kaum noch. Immer öfter greift er zur Flasche. Nur die Trainings in der Laufgruppe halten ihn davon ab, ganz abzustürzen. Doch an Weihnachten nimmt sein Leben eine überraschende Wendung. Eine Weihnachtsgeschichte von Sacha Beuth

Den Gang zum Briefkasten hätte sich Sandro wieder einmal sparen können. Nebst den üblichen Werbeprospekten fanden sich darin nur ein paar neue Absagen auf seine Bewerbungen für eine Stelle als Buchhalter. Überqualifiziert sei er. Oder er entspräche schlicht nicht dem gesuchten Profil. Die Wahrheit stand nicht darin. Dass er mit seinen 52 Jahren schon zu alt sei und vor allem zu viel koste. Und dass man ihm das nötige Engagement nicht zutraue. Ihm, der in drei verschiedenen Firmen gearbeitet hatte, seine Aufgaben immer korrekt erledigte und – etwa wenn ein neues Computersystem eingeführt wurde – unbezahlt auch einen Teil seiner Freizeit opferte, bis im Betrieb wieder alles rundlief. Nur, das interessiert heute keinen mehr, das wurde auch Sandro immer deutlicher bewusst.

Müde schlurfend, kehrte Sandro wieder in das Haus an der Bertastrasse zurück und stieg die Treppe bis zu seiner Wohnung empor. In der Küche goss er sich einen Kaffee ein, den er mit einem Schuss Kirsch «würzte», nahm einen kräftigen Schluck, legte sich auf das abgenutzte Sofa und liess seine Gedanken schweifen.

Angefangen hatte alles, als Sandros Frau Kathrin erkrankte. Das war vor vier Jahren. Da war der Darmkrebs schon zu weit fortgeschritten. Die Ärzte schüttelten nur die Köpfe. Keine Chance mehr. Sandro pflegte Kathrin erst zu Hause, unterstützt von ihrer gemeinsamen Tochter Michela. Dann, als es schlimmer wurde und Kathrin hospitalisiert werden musste, besuchte er sie fast jeden Tag im Krankenhaus. Ausserhalb der Arbeitszeiten natürlich. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt befand sich die Bank, für die Sandro tätig war, wieder in einer Umstrukturierungsphase. Von den Mitarbeitern wurden Extra-Einsätze verlangt, die Sandro jedoch mit Verweis auf die private Situation für einmal ablehnte. Dafür habe das Unternehmen natürlich Verständnis, hiess es von Seiten seiner Vorgesetzten.

Wenige Wochen später starb Kathrin. Und kurz darauf wurde Sandro mitgeteilt, dass man ihn in Folge der Umstrukturierungsmassnahmen leider nicht mehr weiter beschäftigen könne. Zwei derartige Hammerschläge auf einmal – Sandro wurde regelrecht aus der Bahn geworfen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich dazu aufraffen konnte, sich nach einem neuen Job umzuschauen. Beim Schreiben der ersten Bewerbungen war er noch positiv gestimmt. Ein Mann mit seiner Erfahrung musste doch schnell eine neue Stelle finden. Doch je mehr Absagen eintrafen, desto mehr machten sich Zweifel in ihm breit, die erst in Verzweiflung und schliesslich in eine gewisse Gleichgültigkeit mündeten.

Bier als Muntermacher

Die gemeinsamen Freunde sah Sandro kaum noch. Auch an einen gesunden Schlaf war längst nicht mehr zu denken. Erst hatte ein Glas Rotwein beim Einschlafen geholfen, jetzt mussten es zwei Gläser sein. Und morgens hatte er sich seit neustem angewöhnt, ein Bierchen zu trinken, um in die Gänge zu kommen. Durch Alkoholkonsum bedingte Aussetzer gab es bislang bis auf einen nicht. Der jedoch ereignete sich ausgerechnet letzte Weihnachten, als Sandro bei seiner Tochter Michela, ihrem Mann Roberto und der 5-jährigen Enkelin Sarah eingeladen war. Ein vegetarisches Gericht wurde serviert. Was es war, hatte Sandro bereits wieder vergessen. Er wusste nur noch, dass Michela verkündet hatte, man wolle sich gesünder ernähren und auf das viele Fleisch, das früher auf den Tisch kam, verzichten. Sandro fühlte sich darauf angegriffen. Als wäre er mit seiner Vorliebe dafür schuld am Tod seiner Frau. Natürlich hatte dies Michela nicht so gemeint, das war ihm im Nachhinein klar. Doch in jenem Moment musste er den Ärger runterspülen, füllte sich immer von neuem Wein ein, bis er betrunken war und zum Entsetzen aller Anwesenden, insbesondere aber seiner Enkelin, laut krakeelend anfing, seine Tochter verbal zu attackieren. Sie hätte Kathrin viel zu wenig besucht, obwohl sie doch wusste, wie sehr seine Frau an ihrer Tochter gehangen habe. Und als Kathrin krank war, hätte sie sich ebenfalls viel zu wenig blicken lassen, warf Sandro Michela vor. Der Abend endete jedenfalls unschön und der Kontakt zwischen Sandro und Michela und ihrer Familie fand nur noch sporadisch statt.

Sandro war sich wohl bewusst, dass ihn da ein gefährlicher Strudel erfasst hatte. Dennoch glaubte er, die Situation allein in den Griff bekommen zu können. Im Gegensatz zu «echten» Alkoholikern lasse er sich nicht einfach gehen, wolle immer noch einen Job und treibe ja Sport. Tatsächlich nahm er nach wie vor an den Trainings einer Laufgruppe teil, der er sich bereits vor 15 Jahren angeschlossen hatte. Laufen war Sandros Ding schon seit klein auf. Als Leichtathlet war er bei den Schweizer Juniorenmeisterschaften über 800 Meter immerhin einmal Vierter geworden. Auch achtete er darauf, dass es im Anschluss ans Training, wenn sich die Gruppe in einer Bar noch einen Drink genehmigte, bei einem Bier blieb.

Der Ehrgeiz kehrt zurück

Die Gruppe hatte vor einem Jahr wieder Zuwachs erhalten. Christian, ein etwa 35-jähriger Zürcher Oberländer, war dazugestossen, mit dem sich Sandro auf Anhieb bestens verstand. Zwar gab Christian nicht allzu viel von sich preis (man wusste eigentlich nur, dass er im kaufmännischen Bereich tätig war), dafür war er ein umso besserer Zuhörer. Sandro erzählte ihm von seiner Leidensgeschichte und auch, dass er mal ein ganz guter Buchhalter und ein guter Läufer war.

Fortan wurde er nach den Trainings von Christian gerne zu einem Privatduell aufgefordert. Gegen seinen deutlich jüngeren Konkurrenten zog Sandro zwar immer den Kürzeren. Trotzdem kniff er kein einziges Mal. Die Zweikämpfe weckten zudem wieder seinen Ehrgeiz, ein Gefühl, das ihm im Alltag abhandengekommen war.

Nun war in zwei Wochen wieder Weihnachten und Sandro in einem Tief. Kathrins Tod, die letzte Weihnachtsfeier – alles kam wieder in ihm hoch. Also machte er sich auf zum Lochergut, um dort einen Sechserpack Bier zu kaufen und damit seinen Kummer zu ertränken. Als er auf dem Rückweg die Badenerstrasse querte, kamen ihm Michela und Sarah entgegen. Verschämt versuchte Sandro, das Bier hinter seinem Rücken zu verstecken. Doch es war schon zu spät. Michela hatte den Sixpack gesehen und begrüsste ihren Vater äussert verhalten und mit einer Miene, welche ihre Enttäuschung deutlich machte. Ganz anders Sarah, die sich offensichtlich sehr über die Begegnung freute und ihrem Grossvater regelrecht in die Arme sprang. Munter plauderte die Kleine darauflos, erzählte, dass sie auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken seien und natürlich von ihrem Wunsch, einem Holzpferd in Echtgrösse inklusive Zaumzeug und Sattel. Wohl habe Mutter deswegen schon mit dem Christkind Kontakt aufgenommen und das Christkind hätte gesagt, das sei vermutlich dieses Jahr nicht möglich. Aber hoffen könne sie trotzdem. Und dann fragte Sarah noch, wann denn der Grosspapi mit ihnen feiern werde. Sandro schaute zu Michela. Diese holte tief Luft und meinte: «Ich glaube, wir haben gesagt am 25., oder?». «Stimmt», konnte Sandro irgendwie hervorpressen, worauf man sich verabschiedete.

In seiner Wohnung angekommen, stellte Sandro das Bier erst mal in eine Ecke. Das Bedürfnis, sich zu betrinken, war verflogen. Stattdessen nahm ihn tiefe Scham gefangen. Ihm war klar, dass er einiges gutzumachen hatte. Und er wusste auch schon genau wie. Michela und Roberto sollten zu Weihnachten einen Wellnessaufenthalt in einem Berghotel erhalten und Sarah ihr Holzpferd. Nur wie Sandro das dafür nötige Geld auftreiben sollte, das wusste er nicht. Was er noch hatte, reichte kaum für seine Bedürfnisse bis Ende Monat.

Am nächsten Abend begab sich Sandro geknickt zum Lauftraining. Zum ersten Mal gab er Christian für das übliche Duell einen Korb. Der war ganz erstaunt und fragte natürlich nach dem Grund, worauf ihm Sandro seine Not darlegte. Einen kurzen Augenblick überlegte Christian. Dann sagte er: «Komm übermorgen Mittag zu mir. Du sagst doch immer, dass Du ein guter Buchhalter warst. Jetzt kannst Du es beweisen».

Als Sandro am übernächsten Tag bei Christian eintraf, wartete dieser schon mit einem Stapel Akten und mehreren Disketten auf. «Das hier sind die Bücher eines mittelgrossen Unternehmens, für das ein Freund von mir arbeitet. Aus Sicherheitsgründen kann ich Dir nicht sagen, um welche Firma es sich handelt und deswegen sind auch dementsprechende Passagen in den Unterlagen anonymisiert. Mein Freund glaubt nun, dass die Buchhaltung nicht korrekt ausgeführt worden ist, und will sie nachprüfen lassen. Traust Du Dir die Sache zu? Meinem Freund wäre dies 1500 Franken wert ...» Sandro musste leer schlucken. Damit könnte er problemlos die angedachten Weihnachtsgeschenke für seine Familie bezahlen. Er blätterte kurz in den Unterlagen, bevor er dann in festem Ton antwortete: «Ja, das kann ich». «Gut, dann fang gleich an.»

Umgehend stürzte sich Sandro in seine Aufgabe. Um zwei Uhr nachts musste ihn Christian regelrecht dazu zwingen, eine Pause einzulegen, etwas Kleines zu essen und ein paar Stunden auf der Couch zu schlafen. Am nächsten Morgen sass Sandro schon um sechs Uhr wieder am Computer und arbeitete wie ein Irrer, so dass er die Überprüfung bereits gegen 20 Uhr abgeschlossen hatte. «Prima», lobte Christian. «Geh jetzt nach Hause. Morgen Abend melde ich mich bei Dir.»

Ein Test mit Folgen

Sandro war erstaunt, als Christian am Folgetag bereits um 15 Uhr bei ihm klingelte. Als er seinem Freund öffnete, fiel sein Blick auf ein dickes Couvert, das Christian in der Hand hielt. «Hier drin sind die versprochenen 1500 Franken. Doch bevor ich Dir das Geld gebe, möchte ich Dich etwas fragen.» Als Sandro Christian eintreten liess, erklärte dieser: «Ich muss Dir gestehen, dass die ganze Überprüfung der Bücher nur ein Test war. Ich bin Geschäftsführer einer Firma und wollte herausfinden, wie gut Deine buchhalterischen Fähigkeiten wirklich sind. Darum habe ich bewusst einige Ungereimtheiten in die Bücher einbauen lassen. Du hast aber alle gefunden. Ausserdem habe ich bei den Lauftrainings gesehen, dass Du schweren Aufgaben nicht aus dem Weg gehst und bereit bist, Dich voll einzusetzen. So jemanden könnte ich gebrauchen. Willst Du für mich arbeiten?» Im ersten Moment glaubte Sandro zu träumen. Doch dann realisierte er, dass ihm hier eine grosse Chance geboten wurde. Eine Chance, die einem Weihnachtswunder gleichkam. Christian stand geduldig wartend vor ihm, sah wie sein Freund von der Freude übermannt wurde und nur mühsam die Worte hervorbrachte: «Ja, sehr gern. Danke, danke tausendfach.» «Toll, nach den Feiertagen fängst Du an. Und die 1500 Franken sind schon mal ein Vorschuss auf Deinen Lohn.»

Am 25. war Sandro am frühen Abend bei seiner Tochter eingetroffen. Er war herausgeputzt wie schon lange nicht mehr. Hatte sich in Hemd und Schale geworfen, war beim Coiffeur. Vor allem aber hatte er seit dem ungewöhnlichen Anstellungsgespräch keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Ein Umstand, den Michela bereits beim Öffnen der Tür zu bemerken schien und der zu einer weit liebevolleren Begrüssung führte, als es Sandro und wohl auch Michela erwartet hatten.

In der Wohnung wartete das Holzpferd für Sarah, hübsch verpackt bereits neben dem Weihnachtsbaum, auf seine neue Besitzerin, die Wellnessferien-Gutscheine für Michela und Roberto hatte Sandro in seine Manteltasche gesteckt. Die Bescherung fand noch vor dem Abendessen statt, wobei sich Sandro über den ehrlichen Jubel von Sarah ebenso freute wie über dessen Karte und die neuen Laufschuhe, die er von Michela und Roberto erhielt.

Als man sich schliesslich zu Tisch begab, präsentierte Michela stolz ihren selbstgemachten Schweinebraten. «Ich hoffe, der schmeckt Dir», sagte sie und blinzelte ihrem Vater zu. «Verzeih mir bitte», antwortete darauf Sandro. Er hauchte es mehr, als dass er es sagte, aber Michela verstand, schöpfte ihm ein grosses Stück und gab ihm einen Schmatzer auf die Stirn.

Dankend legte er die Hand über sein Glas, als ihm Roberto Rotwein einschenken wollte. Und während des Essens erzählte er, dass er wieder eine Stelle gefunden habe. «Oh Grosspapi, da bin ich ja so froh», meldete sich Sarah. «Mami erzählte mir, dass Du nur darum letzte Weihnachten so böse Sachen gesagt hast, weil Du keine Arbeit hattest und Dich das krank machte. Dann bist Du jetzt wieder gesund?» «Ich denke schon. Zumindest des Schlimmste ist jetzt überwunden.» Sarah erhob sich vom Stuhl und rannte auf Sandro zu, um ihn an sich zu drücken. Sie merkte nicht, dass ihr Grossvater den Kopf dabei abwandte, damit seine Enkelin die Tränen nicht sah, die ihm über die Wangen rannen.

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