Porträt
Schluss machen mit Extras
Von: Jan Strobel
Seit elf Jahren sind die beiden Zürcherinnen Lucia Frei (28) und Julia Müller (33) ein Paar. Um ihrem Glück auch einen gleichberechtigten zivilrechtlichen Rahmen zu geben, fehlt ihnen nur etwas – eine Eheschliessung. Am 26. September kommt nun die Vorlage zur «Ehe für alle» an die Schweizer Urnen.
«Was gibt es Schöneres», sagt Lucia Frei, «wenn auf dieser Welt wieder ein paar mehr Menschen glücklich sein können? Das kann doch niemanden ernsthaft stören.» Und sie stellt eine Frage in den Raum: «Was nehmen wir eigentlich der Gesellschaft weg, wenn wir gleichberechtigt heiraten dürfen?» Die Antwort kommt von ihrer Lebensgefährtin Julia Müller: «Nichts».
Die kurze Diskussion zwischen den beiden wirft nicht nur eine Grundsatzfrage auf; sie reflektiert eine Debatte, die weit in die Vergangenheit reicht, in einen Raum der Kämpfe, der Verluste und Opfer, aber auch der Siege, durch welche sich die homosexuelle Community bahnen musste auf der Suche nach der menschlichen Freiheit. Sie wählte dazu stets eine eigene Haltung und einen eigenen Weg.
Wenn am 26. September die Stimmberechtigten über die «Ehe für alle» an der Urne befinden, dann mag das für die Mehrheit der Bevölkerung keine direkte Bedeutung für ihren Alltag haben; für schwule und lesbische Paare indessen ist es ein entscheidendes Votum für die Gleichberechtigung, für die Möglichkeit, ihre Lebensentwürfe so gestalten zu können, wie es für heterosexuelle Paare selbstverständlich und unhinterfragbar ist.
Doch das Glück oder die menschliche Freiheit oder die Gleichberechtigung sind Ideale, die immer auch in einen gesetzlichen Rahmen gegossen werden müssen, jenseits von persönlichen Befindlichkeiten oder Lebensentwürfen. Und gerade bei der Ehe mit ihren Rechten und Pflichten gilt das im besonderen Mass. Artikel 14 der Bundesverfassung hält sich diesbezüglich knapp: Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet. «Es ist also ein Grundrecht», sagt Lucia Frei. «Es macht mich traurig, dass wir über unsere Grundrechte an der Urne abstimmen müssen.»
Ein Zwangs-Outing
Seit elf Jahren sind Lucia Frei und Julia Müller bereits ein Paar, seit sechs Jahren wohnen sie zusammen. Kennengelernt hatten sich die beiden auf der Tanzfläche an einer Party im Rahmen des Zurich Pride-Festivals. Damals, 2010, zeichnete sich eine «Ehe für alle» in der Schweiz lediglich als schwach skizzierte Möglichkeit am gesellschaftspolitischen Horizont ab.
2005 hatte das Schweizer Stimmvolk mit 58 Prozent das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare angenommen, 2007 trat das neue Gesetz in Kraft. Zürich hatte dieses Modell bereits seit 2003 gekannt. Für Schwule und Lesben bedeutete das einen ersten grossen Sieg in ihrem Kampf. Dennoch: Die eingetragene Partnerschaft ist keine Ehe, es gibt entscheidende Unterschiede (siehe Box rechts). Dass die Debatte weitergehen würde, lag also auf der Hand.
Für Lucia Frei und Julia Müller war eine eingetragene Partnerschaft keine Option, um ihrer Liebe einen zivilrechtlichen Rahmen zu geben. «In Dokumenten oder Bewerbungen ist es oft unerlässlich, jeweils den Zivilstand anzugeben», sagt Julia Müller. «Der Vermerk ‹eingetragene Partnerschaft› kommt in gewissen Situationen fast schon einem Zwangs-Outing gleich. In manchen Branchen oder auch gerade in einem konservativeren Umfeld kann das zu Problemen oder Nachteilen führen.» Dieses Extra im Schweizer Zivilstandsrecht, ist Julia Müller überzeugt, sei in sich selbst schon diskriminierend. «Wir möchten uns erst dann binden, wenn die vollwertige Ehe für uns möglich sein wird.»
Es gibt Stimmen, die finden, die homosexuelle Community solle den «Ball flach halten», irgendwann sei es schliesslich genug mit den «Extrawürsten» und der Identitätspolitik. «Viele Heterosexuelle», meint dazu Lucia Frei, «können sich nicht vorstellen, was es heisst, wenn andere darüber entscheiden können, was du darfst und was nicht, wie du dein Privatleben zu gestaltet hast.» Und schliesslich, schiebt Julia Müller nach: «Wir wollen keine Extrawürste, sondern die gleichen Rechte und Pflichten.»
Überkommene Ideale?
Für die Gegner einer «Ehe für alle» liegt eines der Kernprobleme im vorgesehenen Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare und insbesondere in der Legalisierung von Samenspenden für lesbische Paare. Das Kindswohl werde damit, so die Befürchtung, gefährdet, einer «Entwurzelung» der Kinder Tür und Tor geöffnet, die Samenspende für lesbische Paare verwehre ihnen per Gesetz den Vater. Sie würden gleichsam zu «Kindern auf Bestellung». Die klassische Familie sei zentral für die Identitätsbildung der Kinder und damit ein Grundpfeiler für eine starke Gesellschaft. Zudem, zeigen sich die Gegner überzeugt, dürften bald auch Forderungen nach der Eizellenspende und der Leihmutterschaft folgen.
Für Julia Müller und Lucia Frei folgen diese Argumente einem längst überkommenen Familienbild, das nicht mehr den Realitäten entspreche. «Kinder brauchen vor allem ein liebevolles und stabiles Umfeld. Darin liegt schliesslich der Grundgedanke des Kindswohls. Das können homosexuelle Eltern genauso gut gewährleisten wie heterosexuelle», sagt Julia Müller. Zudem seien gleichgeschlechtliche Elternpaare in der Schweiz schon heute eine Tatsache.
Aufschluss darüber gibt das Bundesamt für Statistik. 2019 lebten hierzulande 1054 gleichgeschlechtliche Paare mit mindestens einem Kind unter 25 Jahren. Schätzungen gehen überdies davon aus, dass in der Schweiz bis zu 30 000 Kinder in Regenbogenfamilien aufwachsen. Ein Teil von ihnen wurde bereits jetzt unter besonderen Umständen adoptiert, andere wiederum über die derzeit verbotene Samenspende ausgetragen.
Das Problem sieht Julia Müller in der ganzen Debatte auch in der Angst vieler Gegner vor einer Bedrohung christlicher Werte. «Es geht aber bei dieser Abstimmung nicht um religiöse Inhalte, also nicht um eine christliche Eheschliessung, sondern um ein rein ziviles Recht. Es ist enorm wichtig, das voneinander zu trennen. Wir möchten keine Religionsgemeinschaft zwingen, lesbische oder schwule Paare zu trauen.»
Ein Nein am 26. September, ist Lucia Frei überzeugt, würde zudem ein fatales Signal an homosexuelle Jugendliche und ihr Bedürfnis nach Akzeptanz und Zukunftsperspektiven senden. Eine 2017 in den USA veröffentlichte Studie der Universitäten Harvard und Johns Hopkins legte nahe, dass das Suizidrisiko junger Homosexueller dort geringer ausfiel, wo die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert ist. «Meine Sorge ist bloss», meint Lucia Frei, «dass viele Stimmberechtigten gar nicht an die Urne gehen werden, weil sie finden, die Vorlage werde ohnehin angenommen».
Ehe für alle: Um das gehts am 26. September
Mit der Vorlage «Änderung vom 18. Dezember 2020 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches» – kurz «Ehe für alle» – soll ein entscheidender Schritt für die Gleichberechtigung homosexueller Paare umgesetzt werden. Künftig sollen auch schwule und lesbische Paare eine Ehe mit all ihren Rechten und Pflichten eingehen dürfen. Bisher haben gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz nur die Möglichkeit zu einer eingetragenen Partnerschaft.
Die eingetragene Partnerschaft unterscheidet sich in zentralen Punkten von der Ehe. So ist eingetragenen Paaren die vereinfachte Einbürgerung oder die Adoption eines Kindes nicht möglich. Ebenso ist ihnen der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin verwehrt. Um diese Ungleichbehandlung zu beseitigen, entschieden Bundesrat und eine Mehrheit im Parlament im Dezember 2020, dass neu auch gleichgeschlechtliche Paare zivil heiraten können.
Eingetragene Partnerschaften können dann in eine Ehe umgewandelt werden. Diese Öffnung ermöglicht es schwulen und lesbischen Paaren zudem, Kinder zu adoptieren. Für lesbische Paare wird zusätzlich die Inanspruchnahme von Samenspenden in Schweizer Fortpflanzungskliniken legal. Die Vorlage geht auf eine parlamentarische Initiative zurück, die 2013 von der Berner GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy eingereicht worden war.
Gegen den Beschluss von Bundesrat und Parlament wurde das Referendum aus den Reihen der EDU, SVP, EVP und der Mitte ergriffen. Sie möchten die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau als «zentralen Eckpfeiler von Gesellschaft und Staat» schützen. Nur die Verbindung von Mann und Frau habe die Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens.
Zudem, monieren die Gegner einer «Ehe für alle», sei die Samenspende für lesbische Paare verfassungswidrig. Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürften gemäss Bundesverfassung nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann. Lesbische Paare als unfruchtbar einzustufen, widerspreche allen gültigen Definitionen. Überdies bleibe dabei das Kindeswohl auf der Strecke. Kinder würden «Vorbilder von beiden Geschlechtern» brauchen. Für die Gegner der Vorlage scheint klar: Bald dürften Forderungen nach der Eizellenspende und der ethisch fragwürdigen Leihmutterschaft folgen.
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