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Porträt

Gabriela Treig am Ziel: Der Kilometer null ist der letzte Kilometerstein des Jakobswegs auf dem Camino a Finisterre, dem verlängerten Jakobsweg von Santiago de Compostela zum Kap Finisterre.

Schritt für Schritt zurück ins Leben

Von: Ginger Hebel

23. Dezember 2013

Gabriela Treig verlor ihren Mann und den Boden unter den Füssen. Sie pilgerte auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Eine Reise, die ihren Schmerz nicht heilte, aber sie ein Stück weit davon befreite.

Manchmal, da möchte man am liebsten weglaufen vor dem Leid und vor sich selbst. Es gab eine Zeit im Leben von Gabriela Treig, da wollte sie das auch. Vor etwas mehr als zehn Jahren starb ihr Mann an einem Lungentumor, den die Ärzte erst entdeckten, als es zu spät war. «Mein Mann spürte immer, dass mit seinem Körper etwas nicht stimmte, aber die Ärzte fanden nichts. Hätten sie richtig geschaut, dann würde er heute noch leben», ist sie überzeugt. Wenn sie davon erzählt, schiessen ihr die Tränen in die Augen.

Mit 17 lernte sie ihre Jugendliebe kennen. An ihrem 20. Geburtstag verlobten sie sich, mit 21 heirateten sie, mit 30 hatte sie bereits zwei Söhne. «Mein Mann kümmerte sich um alles, umsorgte mich, ich fühlte mich bei ihm gut aufgehoben.» Zusammen führten sie eine Schreibmaschinenschule und unternahmen mit den Kindern in der Freizeit lange Touren auf dem Rennvelo. Nach dem Tod ihres Mannes fiel sie in ein schwarzes Loch. «Ich fühlte mich wie betäubt, nahm meine Umgebung kaum noch wahr, als würde die Zeit stillstehen.» Zweieinhalb Jahre dauerte der Ausnahmezustand, dann kämpfte sie sich zurück ins Leben. Sie zog aus der Familienwohnung aus und verkaufte die Möbel. Im Fitnesscenter wurde sie auf ein Gespräch aufmerksam, bei dem Frauen über ihre bevorstehende Pilgerreise auf dem Jakobsweg diskutierten. «Ich hatte schon viel darüber gelesen und gehört und fragte spontan: ‹Nehmt ihr mich mit?›»

2005, an Pfingsten, begann die Reise ihres Lebens. Von Le Puy-en-Velay, dem Ausgangspunkt des französischen Jakobswegs in der Auvergne, pilgerten sie zusammen los. Eine Woche lang wanderten sie durch fast menschenleere Gegenden, über Naturwege, vorbei an Bergbächen und malerischen Kapellen. «Ich habe mir die Landschaft niemals so schön vorgestellt», sagt sie. Die erste Etappe hat viel in ihr ausgelöst. «Ich habe den Mut gefasst, Neues zu erleben.» Im darauffolgenden Mai reiste die Gruppe an den Endpunkt der letzten Etappe. Sie passierten das Bilderbuchdorf Saint-Cirq-Lapopie, übernachteten in spartanischen Mehrbettzimmern in Herbergen und in einfachen Gasthöfen mit Toilette und Dusche auf dem Gang. «Morgens, wenn wir aufbrachen, waren viele Pilger unterwegs, nach einer halben Stunde verteilte sich die Masse, dann lief man oft stundenlang allein.» Unterwegs freundete sie sich mit Ueli Brunner an. Der ehemalige Zürcher Strassenmaler organisiert und begleitet seit Jahrzehnten Pilgerreisen. Begeistert kehrte Treig nach den Wanderetappen nach Hause zurück und schwärmte ihren Söhnen vor. «Sie fragten, ob ich nicht einfach einmal normale Ferien in einem Strandhotel machen wolle, aber das Wandern tat meiner Seele gut, ich konnte loslassen.» Sie, die früher mit ihrem Mann und den Buben immerzu Ferien in der Schweiz verbrachte, begann die Welt in kleinen Schritten zu entdecken.

Saint-Jean-Pied-de-Port hiess das letzte Etappenziel auf französischem Boden. Hier beginnt der klassische Jakobsweg Camino Francés, der auf einer Strecke von knapp 800 Kilometern quer durch Nordspanien von den Pyrenäen über Pamplona bis nach Santiago de Compostela führt. Als Jakobsweg wird eine Anzahl von Pilgerwegen durch ganz Europa bezeichnet. Alle haben die angebliche Grabstätte des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela in Galicien zum Ziel. Seit den 1970er-Jahren steigen die Pilgerzahlen kontinuierlich an. Wurden 1987 noch 3000 ­Pilger registriert, erreichten die Zahlen im Jahr 2006 erstmals die 100 000er-Grenze. Im Jahr 2012 waren es schon über 192 000. «Ich begegnete Pilgern aus der ganzen Welt; Norwegern, Japanern und Koreanern. Es ist eindrücklich, wie viele Leute auf Pilgerschaft gehen.»

Jeder Kilometer ein Befreiungsschlag

Letztes Jahr löste sich die Maigruppe auf, und sie schloss sich der Oktobergruppe an. Die letzte Etappe führte von Sarria nach Santiago de Compostela und weiter nach Finisterre – 220 Kilometer in 2 Wochen. Am 13. Oktober 2013, an ihrem 60. Geburtstag, hat sie das ersehnte Ziel Tausender Pilgerinnen und Pilger erreicht: Santiago de Compostela. Im Pilgerbüro holte sie sich ihre verdiente Urkunde ab, die nur erhält, wer entweder den ganzen Weg, mindestens aber die letzten 100 Kilometer der Strecke zu Fuss oder die letzten 200 Kilometer per Velo oder zu Pferd zurückgelegt hat. Sie feierte den Anfang eines neuen Lebensabschnitts ohne ihre Söhne, ohne ihre fünf Geschwister, dafür mit einer Wandergruppe, in der sie sich gut aufgehoben fühlte. «In der Kathedrale schwenkten die Priester den riesigen Weihrauchkessel, was sie nicht immer tun, das war ein unvergessliches Erlebnis», resümiert sie. Der berühmte Kessel symbolisiert geistige Reinigung. Die meisten beenden ihre Pilgerreise in Santiago, sie aber wollte weiter, ans Kap Finisterre, ans Ende der Welt. Sie sah den Leuchtturm über dem Atlantik mit seiner aufschäumenden Gischt. Der Wind zischte, und da stand sie, am Kilometer null, dem letzten Kilometerstein des Jakobswegs. «Diesen Punkt zu erreichen, das war wie eine Befreiung.»

Sie ist bereit für ein neues Leben

Sie sitzt am Esstisch in ihrer 2-Zimmer-Dachwohnung in Zürich. Die Möbel hat sie alle selber ausgesucht und gekauft. «Entscheidungen allein zu treffen und allein zu leben, das musste ich erst lernen», sagt die 60-Jährige. Stolz zeigt sie ihre Pilger­ur­kunde, die Compostela, die sie an das grösste Abenteuer ihres Lebens erinnert und die symbolisch ist für einen Wendepunkt. Selbstbewusster sei sie geworden, eigenständiger und mutiger. «Die Pilgerreise war ein Stück weit auch Trauerbewältigung.»

Heute arbeitet sie in der Be­woh­ner­ad­mi­nis­tra­tion in einem Pflegezentrum. Ihre Söhne sieht sie regelmässig, der ältere geht bald auf Weltreise, dieses Abenteuer gönnt sie ihm. Gabriela Treig hat wieder Lebensfreude gewonnen, aber ist sie auch glücklich? «Ich bin zufrieden. Vielleicht kann ich eines Tages wieder glücklich sein, wenn ich mich neu verlieben würde.» In ihrem Hinterkopf hegt sie den Traum, ein Bed and Breakfast zu führen, in der Schweiz oder in Spanien. «Vielleicht kommt ja ein Prinz herbeigeritten und nimmt mich mit», sagt sie und lächelt. Sie würde ihm folgen, denn das Leben geht weiter. Es steht nicht mehr still.

Informationen zu Pilgerreisen sind erhältlich unter

www.pilgern.ch

www.ultreiaverlag.ch

 Haben auch Sie einen Schicksalsschlag erlebt oder möchten Sie uns vom Abenteuer Ihres Lebens erzählen? Ihre Geschichte interessiert uns. ginger.hebel@tagblattzuerich.ch

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